Der Fänger
das Warten war grauenhaft. Das hätte sie sich niemals vorgestellt. Sie hatte Igor Sartow vertraut. Alle hatten diesem Mann wohl vertraut, und nun erlebte sie das böse Erwachen.
»Sam...?«, fragte sie flehend.
»Sei ruhig!«
»Bitte, Sam, wie geht es weiter?«
»Du solltest deinen Mund halten!«
Bei der letzten Antwort hatte der Klang seiner Stimme schon drohender geklungen, und danach richtete sie sich. Sie würde sich eher ein Stück Zunge abbeißen als noch mal eine Frage zu stellen.
Auch die nächsten Sekunden versickerten in der Stille, bis plötzlich Schritte heranhallten. Sie drangen von außen her durch die offene Tür in den OP, wo sie einfach nicht überhört werden konnten.
Die Tür sah Raissa immer noch nicht, aber in der Dunkelheit schälte sich eine Gestalt hervor.
Es war der Arzt!
»Etwas mehr Licht, Sam«, befahl er.
Der Aufpasser gehorchte.
Raissa hielt die Augen sicherheitshalber geschlossen, weil sie damit rechnete, von einer Deckenleuchte geblendet zu werden, was jedoch nicht eintrat.
Das Licht gehörte zu keiner runden OP-Lampe, es waren Lampen an den Wänden, die sich erhellten und ihren Schein über die gelblichen Kacheln an den Wänden streichen ließen.
Jetzt war auch Dr. Banacek besser zu erkennen. Er stand neben Sam und starrte auf die liegende Frau. Durch den offenen Mund holte er Atem und stieß ihn wieder aus. So ging das einige Male, bis er sich nach vorne bewegte und dicht an die rechte Seite der jungen Russin herantrat.
»Hallo, Raissa«, sagte er. »Es ist so weit!«
»Wie? Was?«
»Dein Schicksal wird sich gleich erfüllen.«
Sie war noch immer durcheinander und wollte wissen, ob Banacek sie operieren wollte.
Er konnte nicht mehr. Er musste lachen. »Wieso denn operieren? Nein, verdammt, das nicht. Ich werde dich nicht operieren, ich werde dich sezieren oder aufschneiden. Aber zuerst, meine Liebe, schneide ich dir die Kehle durch, denn ich kann keinen Menschen leiden sehen...«
Wenn es je eine innere Panik gegeben hatte, so erlebte die junge Russin sie in diesen fürchterlichen Augenblicken. Es war einfach zu grauenhaft und eigentlich nicht möglich – aber es stimmte.
Sie hatte sich nicht verhört!
Vor Angst wurde ihr Übel. Das Luftholen hörte sich an, als würde sie ersticken. Das Gesicht des Arztes verschwamm. Sie verdrehte die Augen und spürte den Druck einer fremden Hand auf ihrer Stirn, was ihr seltsamerweise wieder etwas Ruhe gab.
»Ruhig, meine Liebe, ruhig«, vernahm sie die Stimme des Weißkittels. »Es wird alles in Ordnung gehen. Alles ist gut vorbereitet. Du bist sehr wertvoll für mich und für die Menschen, denen es schlecht geht. Du kannst ihnen helfen, denn es werden deine Organe sein, die diese Menschen am Leben erhalten. Durch dein Herz, deine Leber oder deine Niere. Das sollte dir ein gutes Gefühl mit ins Jenseits geben. Und ich verspreche dir, dass du kaum etwas spüren wirst. Der Tod wird dich sehr schnell ereilen. Von einem Augenblick zum anderen...«
Der Zynismus des Mannes war nicht mehr zu überbieten. Raissa hatte jedes Wort gehört und auch verstanden.
Sterben! Ich muss sterben!
Immer wieder blitzte dieser Gedanke in ihrem Kopf auf. Sie wollte schreien oder sich irgendwie dagegen wehren, doch sie war einfach zu schwach. Nichts von alledem schaffte sie. Raissa fühlte sich wie gelähmt.
Und dann dieses Gesicht über ihr, um das das Licht so etwas wie einen Heiligenschein gelegt hatte. Was für ein Hohn. Er war ein Arzt, sicherlich, aber auch ein Teufel. Oder hatte der Teufel menschliche Gestalt angenommen?
In manchen Märchen und Geschichten war dies der Fall. Daran konnte sich Raissa gut erinnern. Der Teufel war ein brutaler Geselle. Er war ein Täuscher, einer, der die Menschen bei ihren Schwachstellen packte, um dann zuzuschlagen.
Ihr Herz schlug – noch!
Es pumpte. Es hinterließ bei jedem Schlag Schmerzen, als wollte es sich aus ihrer Brust sprengen. Raissa hatte das Gefühl, in Watte gepackt worden zu sein. Sie schloss die Augen, weil sie dem Bild entgehen wollte, das sie dicht vor sich sah.
Als sie die Augen wieder öffnete, war es immer noch da: die schreckliche Parodie auf einen Heiligen oder einen Engel.
Und es war schlimmer geworden!
Es war etwas Blitzendes, das der Mann in der rechten Hand hielt. Es wuchs praktisch aus der Faust hervor. Auf der Oberfläche waren Lichtreflexe zu sehen.
Raissa erinnerte sich daran, dass ihr die Kehle durchgeschnitten werden sollte. Und das, was da über ihr blitzte, war
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