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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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verwischten Spuren von Kreisen, Dreiecken und Pentagrammen in Kreide oder Holzkohle auf dem leeren Fußboden in der Mitte des großen Raumes. Und unablässig dröhnten des Nachts jene Rhythmen und Zaubergesänge durch das Haus, bis es fast unmöglich wurde, Dienstboten zu halten und verstohlenes Geraune über Charles' Wahnsinn zu verhindern.
    Im Januar 1927 ereignete sich ein sonderbarer Vorfall. Eines Nachts gegen Mitternacht, als Charles einen rituellen Gesang zelebrierte, dessen geisterhafte Kadenzen unheimlich durch das Haus hallten, erhob sich plötzlich ein böiger, eiskalter Wind von der Bucht her, begleitet von einem leichten Erdbeben, das jeder in der ganzen Umgebung bemerkte. Gleichzeitig ließ der Kater Anzeichen entsetzlicher Furcht erkennen, und im Umkreis von nicht weniger als einer Meile bellten die Hunde. Das war das Vorspiel zu einem schweren Gewitter, das für diese Jahreszeit ungewöhnlich war und in einem solchen Donnerschlag gipfelte, daß Mr. und Mrs. Ward glaubten, der Blitz habe in ihr Haus eingeschlagen. Sie rannten nach oben, um zu sehen, was für ein Schaden angerichtet worden sei, doch Charles erwartete sie an der Tür zum Dachgeschoß; bleich, entschlossen und unheimlich, mit einer beinahe furchterregenden Mischung aus Triumph und tiefem Ernst auf dem Gesicht. Er versicherte ihnen, es habe nicht eingeschlagen und das Gewitter würde bald vorüber sein. Sie hielten inne, schauten aus dem Fenster und sahen, daß er recht hatte; denn die Blitze entfernten sich immer weiter, und die Bäume bogen sich nicht mehr unter eisigen Windstößen vom Wasser her. Der Donner sank zu einem dumpf grollenden Gemurmel ab und verebbte schließlich ganz. Die Sterne kamen heraus, und der Triumph auf Charles Wards Antlitz verdichtete sich zu einem höchst einzigartigen Ausdruck.
    In den auf diesen Vorfall folgenden zwei Monaten vergrub sich Ward nicht so häufig wie sonst in seinem Laboratorium. Er zeigte ein merkwürdiges Interesse für das Wetter und stellte kuriose Untersuchungen an, um herauszufinden, wann im Frühjahr der Erdboden auftauen würde. Eines Nachts gegen Ende März ging er nach Mitternacht aus dem Haus und kehrte erst kurz vor Tagesanbruch zurück; zu dieser Stunde hörte seine Mutter, die nicht mehr schlafen konnte, wie ein Auto mit ratterndem Motor vor der Einfahrt hielt. Gedämpfte Flüche ließen sich vernehmen, und als Mrs. Ward sich erhob und ans Fenster trat, sah sie vier dunkle Gestalten, die eine lange, schwere Kiste nach Charles' Anweisungen von einem Lastwagen abluden und durch die Seitentür ins Haus trugen. Sie hörte angestrengtes Keuchen und schwere Fußtritte auf der Treppe und schließlich einen dumpfen Schlag vom Dachgeschoß her; danach kamen die Fußtritte wieder die Treppe herunter, die vier Männer tauchten draußen auf und führen in ihrem Lastwagen davon. Am folgenden Tag zog sich Charles wieder in sein Labor im Dachgeschoß zurück, ließ die dunklen Jalousien vor den Fenstern herunter und arbeitete offenbar an irgendeinem Metallgegenstand. Er öffnete keinem und wies, standhaft alles Essen zurück, das man ihm anbot. Gegen Mittag waren ein Reißgeräusch, ein gräßlicher Schrei und das Fallen eines schweren Gegenstands zu hören, aber als Mrs. Ward an die Tür pochte, antwortete ihr Sohn nach einer Weile mit schwacher Stimme, es sei nichts passiert. Der widerwärtige und unbeschreibliche Geruch, der sich jetzt ausbreitete, sei völlig harmlos und leider unvermeidlich. Das wichtigste sei jetzt, daß er allein bleibe, und er würde später zum Abendessen herunterkommen. Nachdem hinter der Tür mehrmals merkwürdige Zischgeräusche ertönt und endlich verstummt waren, kam er am Nachmittag schließlich heraus; er sah völlig verstört aus und verbot jedem einzelnen, unter welchem Vorwand auch immer das Laboratorium zu betreten. Das erwies sich als der Beginn einer neuen Geheimhaltungspolitik, denn von diesem Tage an erlaubte er niemandem mehr, das mysteriöse Arbeitszimmer oder den daran anschließenden Lagerraum zu betreten, den er reinigte, behelfsmäßig möblierte und seinem geheiligten Privatbezirk als Schlafzimmer angliederte. Hier lebte er, mit den Büchern, die er aus seiner Bibliothek heraufholte, bis er den Bungalow in Pawtuxet kaufte und alle seine wissenschaftlichen Geräte und Hilfsmittel dorthin schaffte. Am Abend desselben Tages nahm Charles die Zeitung an sich und vernichtete einen Teil davon, scheinbar durch bloße Unachtsamkeit. Dr. Willett stellte

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