Der Fall Charles Dexter Ward
seyn.«
Mehr konnte Willett nicht lesen, doch irgendwie verlieh dieser kurze Blick den gemalten Zügen Joseph Curwens, die unverwandt von der Täfelung über dem Kamin herabstarrten, eine neue, vage Schrecklichkeit. Und seither konnte er sich nicht von der sonderbaren Vorstellung losmachen - die seine medizinische Bildung ihn natürlich als bloße Einbildung verwerfen ließ -, daß die Augen des Mannes auf dem Porträt den Wunsch, wenn auch nicht gerade die eindeutige Tendenz hatten, dem jungen Charles nachzuschauen, wenn er sich im Zimmer hin und her bewegte. Bevor er das Arbeitszimmer verließ, blieb er stehen, um das Bild genau zu betrachten, und er staunte über die Ähnlichkeit mit Charles und prägte sich jede winzige Einzelheit des kryptischen, farblosen Antlitzes ein, bis hin zu einer kleinen Narbe auf der glatten Stirn über dem rechten Auge. Cosmo Alexander, so entschied er bei sich, war als Künstler ein würdiger Sohn jenes Schottland gewesen, das Raeburn hervorgebracht hatte, und ein würdiger Lehrer seines berühmten Schülers Gilbert Stuart.
Nachdem der Doktor ihnen versichert hatte, daß Charles' geistige Gesundheit nicht in Gefahr war und er im Gegenteil sich mit Forschungen befaßte, die sich als wirklich bedeutungsvoll erweisen konnten, waren die Wards nachsichtiger, als sie es sonst vielleicht gewesen wären, als der junge Mann sich im Juni strikt weigerte, sich am College einzuschreiben. Er müsse sich, so erklärte er, Studien von weit größerer Bedeutung widmen, und teilte seinen Eltern mit, er wolle im nächsten Jahr ins Ausland gehen, um sich Zugang zu Informationsquellen zu verschaffen, die in Amerika nicht vorhanden seien. Ward senior schlug ihm zwar diesen letzteren Wunsch ab, weil er für einen erst achtzehnjährigen Jungen absurd sei, gab aber in der Frage des Universitätsstudiums nach, so daß für den jungen Charles auf den nicht gerade brillanten Abschluß an der Moses Brown-Schule drei Jahre intensiver okkulter Studien und ausgedehnter Friedhofsbesichtigungen folgten. Es sprach sich herum, daß er ein Exzentriker sei, und die Freunde der Familie verloren ihn noch mehr aus den Augen, als es bisher schon der Fall gewesen war. Er widmete sich ausschließlich seiner Arbeit und unternahm nur hin und wieder Fahrten in andere Städte, um obskure alte Archive zu durchstöbern. Einmal fuhr er in den Süden, um sich mit einem sonderbaren alten Mulatten zu unterhalten, der in einem Sumpf lebte und über den eine Zeitung einen merkwürdigen Artikel gebracht hatte. Ein andermal suchte er ein kleines Dorf in den Adirondacks auf, aus dem Berichte über merkwürdige Zeremonien gekommen waren. Aber immer noch gestatteten ihm die Eltern nicht jene Reise in die Alte Welt, die er sich wünschte.
Nachdem er im April 1923 volljährig geworden war, entschloß sich Ward, da er schon vorher ein kleines Vermögen von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte, endlich die Reise nach Europa anzutreten, die man ihm so lange verweigert hatte. Wohin er überall fahren würde, sagte er nicht, außer daß seine Studien den Besuch vieler verschiedener Orte erforderlich machen würden; er versprach jedoch, seinen Eltern regelmäßig und ausführlich zu schreiben. Als sie sahen, daß er nicht von seinem Vorhaben abzubringen war, gaben sie allen Widerstand auf und halfen ihm, so gut sie konnten; im Juni bestieg der junge Mann dann ein Schiff nach Liverpool, begleitet von den guten Wünschen seines Vaters und seiner Mutter, die ihn nach Boston brachten und ihm vom White Star Pier in Charlestown aus zuwinkten, bis das Schiff außer Sicht war. Seine Briefe berichteten bald danach, er sei gut angekommen, habe eine gute Unterkunft in der Great Russell Street in London gefunden, wo er zu bleiben beabsichtige, ohne irgendwelche Freunde der Familie aufzusuchen, bis er die Möglichkeiten des Britischen Museums in einer bestimmten Richtung ausgeschöpft habe. Über seinen Tageslauf schrieb er nur wenig, denn darüber gab es wenig zu berichten. Studium und Experimente beanspruchten seine ganze Zeit, und er erwähnte einmal ein Laboratorium, das er sich in einem seiner Zimmer eingerichtet habe. Daß er nichts über Wanderungen durch die alten Teile der glanzvollen Stadt mit ihrer faszinierenden Silhouette alter Kuppeln und Türme und ihrem Gewirr von Straßen und Gassen schrieb, deren geheimnisvolle Windungen und unvermittelten Aussichten gleichzeitig verlocken und überraschen, nahmen die Eltern als ein gutes Zeichen
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