Der Fall Charles Dexter Ward
später durch Befragung mehrerer Mitglieder des Haushalts das genaue Datum fest, ließ sich im Büro des Journal eine vollständige Nummer vorlegen und entdeckte, daß in dem von Charles beseitigten Teil der folgende Artikel gestanden hatte:
Nächtliche Ruhestörung auf dem Nordfriedhof Robert Hart, Nachtwächter auf dem Nordfriedhof, bemerkte heute in den frühen Morgenstunden eine Gruppe von mehreren Männern mit einem Lastwagen im ältesten Teil des Friedhofes, schlug sie aber offenbar durch sein Auftauchen in die Flucht, bevor sie ihr Vorhaben ausführen konnten. Hart entdeckte die Männer ungefähr gegen vier Uhr, als ihm das Geräusch eines Lastkraftwagens nicht weit von seinem Unterstand auffiel. Er ging dem Geräusch nach und sah einen großen Lastwagen auf dem Hauptweg stehen, mehrere Ruten entfernt; er konnte ihn jedoch nicht mehr erreichen, da offenbar seine Tritte auf dem Kiesweg die Männer auf ihn aufmerksam gemacht hatten. Die Unbekannten luden eilig eine große Kiste auf den Lastwagen und fuhren in Richtung auf die Straße davon, bevor Hart sie einholen konnte. Da kein Grab angetastet wurde, glaubt Hart, bei dieser Kiste habe es sich um einen Gegenstand gehandelt, den die Männer vergraben wollten.
Die Unbekannten mußten schon eine ganze Weile am Werk gewesen sein, als sie überrascht wurden, denn Hart fand ein riesiges Loch, das in beträchtlicher Entfernung vom Hauptweg auf der Parzelle von Amosa Field gegraben worden war, wo früher alte Grabsteine gestanden haben, die jedoch inzwischen längst entfernt wurden. Das Loch, so groß und tief wie ein Grab, war leer. Seine Lage entsprach keiner der in den Kirchenbüchern erwähnten Grabstätten.
Sergeant Riley vom Zweiten Revier nahm die Stelle in Augenschein und äußerte die Ansicht, das Loch sei von Schmugglern gegraben worden, die den äußerst makabren Einfall gehabt hätten, diesen ruhigen Ort als sicheres Versteck für Spirituosen zu mißbrauchen. Auf entsprechende Fragen gab Hart an, er glaube, der Lastwagen sei in die Rochambeau Avenue eingebogen, doch sei er sich dessen nicht sicher. Während der folgenden fünf Tage bekamen die Wards von Charles nicht viel zu sehen. Nachdem er sich im Dachgeschoß auch eine Schlafstelle eingerichtet hatte, blieb er dort oben ganz für sich und gab Anweisung, man solle sein Essen vor die Tür stellen, wo er es sich erst holte, wenn der Dienstbote gegangen war. Das Dröhnen monotoner Formeln und die Rhythmen bizarrer Gesänge waren hin und wieder zu vernehmen, während man zu anderen Zeiten Geräusche wie von klirrendem Glas, zischenden Chemikalien, laufendem Wasser und fauchenden Gasflammen hören konnte. Gerüche völlig unbestimmbarer Art, wie sie nie zuvor jemand wahrgenommen hatte, drangen zuzeiten durch die Tür; und die innerliche Spannung, die man dem jungen Einsiedler ansehen konnte, wenn er sich einmal kurz herauswagte, gab Anlaß zu den absonderlichsten Spekulationen. Einmal begab er sich in aller Eile zum Athenäum, um sich ein bestimmtes Buch zu beschaffen, und ein andermal mietete er einen Boten, der ihm einen höchst obskuren Band aus Boston holen mußte. Spannung hing bedrohlich über der ganzen Situation, und sowohl die Eltern als auch Dr. Willett mußten sich eingestehen, daß sie völlig ratlos waren, was davon zu halten sei oder was man unternehmen könne.
Dann aber trat am fünften April eine bemerkenswerte Wende ein. Zwar vollzog sich offenbar keine grundsätzliche Veränderung, doch war eine furchtbare Steigerung in der Intensität nicht zu übersehen; und Dr. Willett mißt dieser Veränderung irgendwie eine große Bedeutung bei. Es geschah an einem Karfreitag, ein Umstand, von dem die Dienstboten viel Aufhebens machten, während andere ihn natürlich als einen bloßen Zufall abtaten. Am Spätnachmittag fing der junge Ward an, eine bestimmte Formel mit ungewöhnlich lauter Stimme immer wieder aufzusagen, wobei er irgendeine so beißende Substanz verbrannte, daß der Rauch sich im ganzen Haus ausbreitete. Die Formel war im Flur außerhalb der abgeschlossenen Tür so deutlich zu verstehen, daß Mrs. Ward sie sich unwillkürlich einprägte, als sie angstvoll lauschend wartete, und sie später auf Dr. Willetts Verlangen aufschrieb. Sie lautete wie folgt, und Experten haben Dr. Willett darüber aufgeklärt, daß sich eine ganz ähnliche Formel in den mystischen Schriften des »Eliphas Levi« fände, jener kryptischenSeele, die durch einen Spalt in der verbotenen Tür kroch und einen Blick
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