Der Fall Charles Dexter Ward
dafür, daß seine neuen Interessengebiete jetzt seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchten. Im Juni 1924 kam eine kurze Nachricht über seine Abreise nach Paris, wo er schon vorher ein oder zweimal für ganz kurze Zeit gewesen war, um sich Material aus der Nationalbibliothek zu besorgen. In den folgenden drei Monaten schickte er nur Postkarten, auf denen er seine Adresse in der Rue St. Jacques angab und einmal von besonderen Nachforschungen in alten Manuskripten in der Bibliothek eines ungenannten Privatsammlers sprach. Er ging Bekanntschaften aus dem Wege, und keine Touristen konnten berichten, daß sie ihn getroffen hätten. Dann ließ er lange nichts hören, und im Oktober erhielten die Wards eine Postkarte aus Prag, aus der sie erfuhren, daß Charles sich in dieser alten Stadt aufhielt, um mit einem hochbetagten Mann zusammenzutreffen, der angeblich der letzte lebende Mensch sei, der über irgendeine äußerst merkwürdige Information aus dem Mittelalter verfüge. Er nannte eine Adresse in der Neustadt und schrieb, er würde bis zum folgenden Januar dort bleiben. In diesem Monat kamen dann auch mehrere Postkarten aus Wien, auf denen er erzählte, er sei auf der Durchreise zu einer weiter östlich gelegenen Region, wohin ihn einer seiner Briefpartner und Kollegen auf dem Gebiet okkulter Studien eingeladen habe.
Die nächste Karte kam aus Klausenburg in Transsilvanien und berichtete davon, daß er sich seinem Ziel nähere. Er würde einen Baron Ferenczy besuchen, dessen Gut in den Bergen östlich von Rakus liege, und man solle ihm seine Post per Adresse dieses Adligen schicken. Eine weitere Karte, die eine Woche später in Rakus abgeschickt worden war und berichtete, er sei mit der Kutsche seines Gastgebers abgeholt worden und befände sich auf dem Weg in die Berge, war seine letzte Nachricht für einen längeren Zeitraum; er beantwortete nicht einmal die zahlreichen Briefe seiner Eltern, bis er dann im Mai schrieb, um seine Mutter von dem Vorhaben abzubringen, sich mit ihm im Sommer in London, Paris oder Rom zu treffen; um diese Zeit wollten die älteren Wards eine Europareise machen. Seine Nachforschungen, so schrieb er, seien so geartet, daß er seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht verlassen könne, das Schloß des Barons Ferenczy aber sei wegen seiner Lage für Besuche nicht geeignet. Es stünde auf einem Felsen in den dunklen bewaldeten Bergen, und die Gegend werde von den Einheimischen in der Weise gemieden, daß normale Leute sich dort unweigerlich unbehaglich fühlten. Überdies sei der Baron kein Typ, der aufrechten und konservativen Bürgern Neuenglands zusagen würde. Er sei von eigentümlichem Aussehen und Gebaren und von beunruhigend hohem Alter. Es wäre besser, so meinte Charles, wenn seine Eltern bis zu seiner Rückkehr nach Providence warten würden, die nicht mehr in allzu ferner Zukunft läge.
Doch diese Rückkehr fand erst im Mai 1925 statt, als der junge Weltenbummler nach einigen das Ereignis ankündigenden Postkarten in aller Stille auf der
Homeric in New York eintraf und die lange Strecke bis nach Providence im Autobus zurücklegte; wie im Traum nahm er den Anblick der grünen, welligen Hügel, der duftenden, blühenden Gärten und der weißen, von Türmen überragten Städte des frühlingshaft erstrahlenden Connecticut in sich auf — den ersten Vorgeschmack auf Neuengland nach fast vier Jahren. Als der Bus den Pawcatuck überquerte und im feenhaften Gold eines Spätnachmittags im Frühling nach Rhode Island hineinfuhr, begann sein Herz schneller zu schlagen, und die Ankunft in Providence, entlang der Reservoir- und Elmwood-Allee, war ein atemberaubendes, wunderbares Erlebnis, trotz der Tiefen verbotener Geheimwissenschaften, in die er vorgedrungen war. Auf dem hohen Platz, wo die Weybosset und die Empire Street zusammentreffen, sah er vor und unter sich im Feuer des Sonnenunterganges die anmutigen und vertrauten Häuser und Kuppeln und Türmchen der alten Stadt liegen; und ihm wurde ganz benommen zumute, als das Fahrzeug zu der Haltestelle hinter dem Biltmore hinabrollte und die große Kuppel und die weichen, von Dächern unterbrochenen Grünflächen der alten Hügel jenseits des Flusses auftauchten und der im Kolonialstil erbaute Turm der First Baptist Church sich im magischen Abendlicht rosa vor dem frischen Grün des steilen Hügels im Hintergrund abzeichnete.
Gutes, altes Providence! Diese Stadt und die geheimnisvollen Kräfte ihrer langen, kontinuierlichen Geschichte hatten ihn
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