Der Fall Charles Dexter Ward
Reagenzien in den Regalen zog er den Schluß, daß der junge Ward sich vorwiegend mit irgendeinem Zweig der organischen Chemie beschäftigt haben müsse. Alles in allem bot die wissenschaftliche Apparatur, zu der auch ein unheimlich aussehender Seziertisch gehörte, wenig Anhaltspunkte, so daß der Raum im Grunde eher eine Enttäuschung war. Unter den Büchern war auch ein in schwarzen Lettern gedrucktes Exemplar von Borellus, und Willett bemerkte mit leisem Schaudern, daß Ward dieselbe Passage unterstrichen hatte, deren Hervorhebung den guten Mr. Merritt vor über anderthalb Jahrhunderten auf Curwens Bauernhof so sehr verwirrt hatte. Jenes ältere Exemplar mußte natürlich damals zusammen mit der übrigen okkulten Bibliothek Joseph Curwens bei der abschließenden Strafexpedition vernichtet worden sein. Drei weitere Bogengänge mündeten in das Laboratorium, und auch diese nahm der Doktor nacheinander in Augenschein. Bei der ersten, oberflächlichen Musterung sah er, daß zwei davon lediglich in kleine Lagerräume führten; diese jedoch durchsuchte er sorgfältig, wobei er Stapel von Särgen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls entdeckte und heftig schauderte, als er die Inschriften auf einigen der Sargdeckel entzifferte. Außerdem waren in diesen Räumen auch größere Mengen Kleidung sowie mehrere fest vernagelte neuere Kisten gelagert, mit deren Untersuchung er sich nicht aufhielt. Am interessantesten waren vielleicht ein paar nicht mehr benutzte Gegenstände, die er für Teile von Instrumenten aus dem alten Laboratorium Joseph Curwens hielt. Diese waren von den Eindringlingen beschädigt worden, aber zum Teil noch immer als Ausrüstungsgegenstände eines Chemikers der georgianischen Periode erkennbar.
Der dritte Bogengang führte in ein sehr geräumiges Zimmer mit Regalen an allen Wänden und einem Tisch mit zwei Lampen in der Mitte. Diese Lampen zündete Willett an, und in ihrem hellen Schein musterte er die endlosen Regale, die ihn umgaben. Manche der oberen Borde waren ganz leer, doch den meisten Raum nahmen kleine, merkwürdig aussehende Bleikrüge von zwei verschiedenen Grundtypen ein; der eine groß und henkellos wie ein griechischer Ölkrug, eine Lekythos, der andere mit einem Henkel und in der Form wie ein Krug aus Phaleron. Sie hatten alle Metallpropfen und waren mit eigentümlichen, in die Oberfläche eingeritzten Symbolen bedeckt. Der Doktor sah sofort, daß diese Krüge nach einem sehr strengen System klassifiziert waren, denn alle Lekythen befanden sich auf der einen Seite des Raumes unter einem hölzernen Schild mit der Aufschrift »Custodes«, alle Phaleronkrüge dagegen auf der anderen Seite unter einem entsprechenden Schild mit der Aufschrift »Materia«. Jeder Krug, gleich welcher Art, mit Ausnahme einiger weniger auf den obersten Borden, die sich als leer erwiesen, trug ein Pappetikett mit einer Nummer, die sich offenbar auf einen Katalog bezog; und Willett beschloß, sich alsbald auf die Suche nach diesem Katalog zu machen. Im Augenblick interessierte er sich jedoch mehr für das System der Anordnung insgesamt und öffnete auf gut Glück mehrere Lekythen und Phaleronkrüge, mit der Absicht, einen ersten flüchtigen Überblick zu gewinnen. Das Ergebnis war immer dasselbe. Beide Arten von Krügen enthielten kleine Mengen von ein und derselben Substanz - ein feines Pulver von sehr geringem Gewicht und einer blassen, neutralen Färbung in vielen Schattierungen. Die Farben, die das einzige Unterscheidungsmerkmal darstellten, lieferten jedoch keinen Hinweis auf irgendein Ordnungssystem oder auch nur auf den Unterschied zwischen dem Inhalt der Lekythen und dem der Phaleronkrüge. Das hervorstechendste Merkmal des Pulvers war sein fehlendes Haftvermögen. Wenn Willett es sich auf die Hand schüttete und dann wieder in den Krug zurücktat, blieb auf seiner Handfläche nicht der geringste Rückstand.
Die Bedeutung der beiden Schilder gab ihm Rätsel auf, und er fragte sich, warum diese Batterie von Chemikalien so radikal von jenen in den Glaskrügen in den Regalen des eigentlichen Laboratoriums getrennt war. »Custodes«, »Materia« - das waren die lateinischen Wörter für »Wächter« und »Material« -und dann durchzuckte ihn die Erinnerung daran, wo er das Wort Wächter im Zusammenhang mit diesem schrecklichen Geheimnis schon einmal gesehen hatte. Es hatte natürlich in dem jüngst eingetroffenen Brief an Dr. Allen gestanden, der angeblich von dem alten Edward Hutchinson geschrieben war,
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