Der Fall Collini
Zellen und strich sie von seiner Liste.
Der Hof des Gefängnisses war grell beleuchtet, die Scheinwerfer an den Wänden waren eingeschaltet. Die Gesichter der Menschen waren weiß, alles sah aus wie in einem überbelichteten Film. Ein Lastwagen stand in der Mitte, die hintere Plane war zurückgeschlagen. Die Gefangenen kletterten auf die Lade und setzten sich auf die Bänke. Vier Soldaten bewachten sie, sie hatten Maschinenpistolen. Es waren keine Mitarbeiter der Dienststelle, sie trugen die Uniformen der Marine. Keiner schrie Befehle, keiner wehrte sich. Der Dolmetscher fuhr mit dem Offizier der Marinesoldaten in einem Kübelwagen. Am Gefängnistor stieg Hans Meyer hinten ein. Der Dolmetscher saß vorne neben dem Fahrer. Er verstand nicht alles, was die Männer hinten sprachen. Hans Meyer sagte etwas von einem »Hitler-Befehl«, von »General Kesselring«, von »Vergeltung im Verhältnis 1:10 – zehn tote Banditen für einen toten Soldaten«. Er sei nach Florenz einbestellt worden, sagte Meyer, in Rom seien in der Via Rasella dreiunddreißig deutsche Soldatenvon Banditen erschossen worden. Es ginge um »Sühne«. Der Dolmetscher hatte davon gehört, es war eine Polizeikompanie aus Bozen gewesen. General Kesselring hatte danach dreihundertfünfunddreißig Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen erschießen lassen, sie hatten nichts mit der Sache zu tun gehabt, ein Kind sei auch dabei gewesen. »Sonst saubere militärische Aktion«, sagte Hans Meyer.
Sie fuhren etwas über eine Stunde, dann wurde die Straße schmaler, die Scheinwerfer des Lkw blieben dicht hinter ihnen. Einmal sah der Dolmetscher ein Reh, starr und schön, Augen wie Glas.
Als sie anhielten, hatte er die Orientierung verloren. Zwei Busse standen am Rand. Überall waren Marinesoldaten, vielleicht vierzig, sie sperrten die Straße ab. Die Gefangenen stiegen vom Lkw. Die Soldaten fesselten sie, immer zwei Männer am linken Arm, einer musste vorwärts, der andere rückwärts gehen.
Der Dolmetscher blieb bei den Gefangenen und übersetzte die Anweisungen der Deutschen. Dann folgte er Meyer und den Soldaten in die Schlucht. Er stolperte, riss sich die Handkante am Fels auf, griff in das nasse Moos auf den Steinen. Unten, nach einer Biegung, hielten sie auf einer schmalen Talsohle an. Dünner Nebel hing an den Wänden. Vor ihnen lag eine Grube, andere Gefangene mussten sie ausgehobenhaben, die Ränder waren mit Brettern befestigt. Der Dolmetscher konnte nicht anders, er musste runtersehen.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Zehn Soldaten stellten sich in einer Reihe auf, fünf, sechs Meter von der Grube entfernt. Fünf Gefangene wurden zur Grube geführt, bis sie auf einer Holzlatte standen. Sie sahen in die Mündungen der Gewehre, die Augen unverbunden. Keine Erklärung, kein Priester, niemand sprach. Der Offizier gab die Kommandos: »Entsichert«, »Legt an«, »Feuer frei«. Dann sofort zehn Schüsse. Die Felsen warfen das Echo zurück. Die Männer fielen rückwärts in das Loch. Danach brachten die Soldaten weitere fünf Partisanen. Zwischendurch kletterte ein älterer Unteroffizier mit Pistole über eine kleine Leiter in die Grube. Er trug Gummistiefel, seine Lederstiefel wollte er nicht schmutzig machen. Zwei Männern schoss er dort unten in den Kopf. »Als ob es jetzt noch Gnade gäbe«, dachte der Dolmetscher.
Die Partisanen auf den Holzbrettern sahen ihren eigenen Tod. Ihre Vorgänger lagen unten im Dreck, übereinander, Beine und Arme grotesk verdreht, aufgeplatzte Köpfe, Blut auf den Jacken, Blut in den Schlammpfützen. Sie wehrten sich trotzdem nicht. In der Tagesmeldung würde später stehen: »Sühnemaßnahme durchgeführt. Keine besonderen Vorkommnisse.«Nur einer hielt sich nicht an die Abläufe: Der Mann sah nicht zu den Soldaten, er sah zum Himmel, er riss die Arme hoch. »Viva Italia«, schrie er. Und dann schrie er es noch einmal: »Viva Italia.« Seine Stimme klang unwirklich. »Nackt«, dachte der Dolmetscher. Ein Soldat verlor die Nerven, er schoss zu früh, ein einzelner Schuss in den Schrei. Der Dolmetscher sah, wie das Projektil in die Brust des Mannes schlug, ihn umriss, die Arme waren noch ausgestreckt. Das Gesicht des Soldaten, der zu früh geschossen hatte: sehr jung, fast noch ein Kind, sein Mund offen, das Gewehr noch immer im Anschlag. Der junge Mann würde nie jemandem von diesem Tag erzählen. Das war kein Krieg mehr, keine Schlacht, kein Feindkontakt. Menschen töteten andere Menschen, das war alles. Der
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