Der Fall Collini
»Es wird noch einige Überraschungen geben, Frau Vorsitzende. Ich habe alles vorbereitet.«
Im Zuschauerraum wurde es wieder lauter.
»Dann unterbrechen wir für heute. Fortsetzung der Verhandlung am nächsten Donnerstag neun Uhr in diesem Saal. Die Prozessbeteiligten sind bereits geladen. Auf Wiedersehen.« Die Richter und Schöffen standen auf und verließen den Saal durch eine Tür hinter der Richterbank. Oberstaatsanwalt Reimers schob etwas zu laut seinen Stuhl zurück und ging zur Saaltür, er grüßte niemanden. Die Wachtmeister öffneten die Zuschauertür und forderten alleauf, den Saal zu verlassen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis der Letzte draußen war.
Johanna saß noch immer starr auf der gegenüberliegenden Bank der Nebenkläger. Sie war bleich, ihre Lippen hatten keine Farbe mehr. Sie sah Leinen an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Er stand auf und ging zu ihr.
»Bring mich bitte hier weg.« Sie flüsterte, obwohl niemand sie hören konnte.
Vor dem Saal warteten die Journalisten. Ein Wachtmeister half ihnen, er öffnete eine kleine Tür und ließ sie durch, die Reporter konnten nicht folgen. Leinen wollte nicht durch das Hauptportal, er führte Johanna über lange Gänge zum Parkhaus. Der alte Mercedes sprang nicht sofort an.
»Wohin möchtest du?«, fragte er.
»Ist mir egal, nur weg.«
Er fuhr durch die Stadt zum Schlachtensee. Sie saß neben ihm und weinte, und er konnte nichts tun. Er parkte den Wagen auf einem Feldweg, sie gingen ein kurzes Stück durch den Wald.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte sie.
»Ich wollte dich schützen. Du hättest es Mattinger sagen müssen.«
Sie blieb stehen und hielt ihn am Arm fest. »Glaubst du wirklich, dass das alles stimmt?«
Er wartete eine Weile. »Wollen wir zum See gehen?«,sagte er. Er dachte nach. »Ja, es stimmt«, sagte er schließlich. Er hätte gerne etwas anderes gesagt.
»Warum hast du alles zerstört?«, fragte sie. »Dein Beruf ist so grauenhaft.«
Er antwortete nicht. Er dachte an Hans Meyer. Fast spürte er, wie der alte Mann ihm über den Kopf strich. Als Kinder waren sie mit ihm angeln gewesen, die Forellen hatten sie über dem Feuer gebraten und nur mit Salz und Butter gegessen. Philipp und er lagen im Gras, Meyer saß auf einem Baumstamm, hochgekrempelte Hosen und Gummistiefel. Er erinnerte sich an das dunkle Grün der Bäume und das dunklere Grün des Bachs, in dem sie die Fische fingen. Die Zigarren des alten Mannes, der warme Rauch und die Hitze des Sommers. Das alles stimmte nicht mehr. Es würde nie wieder stimmen.
Leinen ging runter zum Ufer. Er schleuderte einen Stein flach über den See, dreimal schlug er auf, dann versank er.
»Dein Großvater hat mir das beigebracht«, sagte er und warf noch einen Stein. Als er sich umdrehte, war Johanna verschwunden.
16
Am nächsten Verhandlungstag waren die Presse- und Zuschauerbänke bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Vorsitzende begrüßte kurz die Verfahrensbeteiligten. Dann nickte sie in Leinens Richtung und sagte: »Bitte.« Leinen stand auf. Seit einer Woche hatte er die Tage im Gefängnis und die Nächte am Schreibtisch verbracht. Er war froh, dass es jetzt so weit war, er konnte nicht mehr. Im Taxi zum Gericht war er eingeschlafen, der Fahrer hatte ihn wecken müssen. Er legte den Text auf das Stehpult. Als er zu lesen begann, wusste er, dass er heute seine Kindheit zerstören würde und dass Johanna nicht mehr zurückkäme. Und dass all das keine Rolle spielte.Am 16. Mai 1944 um 22:18 Uhr waren alle vierzehn Tische des Café Trento in der engen Via di Ravecca in Genua besetzt. Wie jeden Abend waren nur deutsche Soldaten im Café, fast alle waren Angehörige der Marine. Die Männer hatten die Jacken ihrer Uniformen geöffnet, sie spielten Karten, einige waren bereits betrunken. Der Mann, der die Tasche neben sich an die Theke lehnte, trug die Uniform eines Gefreiten. Er sprach mit niemandem, bestellte ein kleines Bier und trank es im Stehen aus. Mit dem Fuß schob er die Tasche halb unter den Tresen, sie war nicht schwer, kaum ein Kilogramm. Vor der Tür hatte er mit einer Zange die Ampulle am Ende des Messingröhrchens zerdrückt. Während er trank, begann in der Tasche die Kupferchloridlösung langsam den Eisendraht zu zersetzen. Er würde mindestens eine Viertelstunde Zeit haben. Sie hatten ihm den englischen Zünder immer wieder erklärt: Sobald der Draht aufgelöst wäre, würde sich eine Feder im Inneren des Röhrchens lösen, ein Schlagbolzen
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