Der Fall Collini
Hunger.
»Sie können ja Freundschaft mit den Wildschweinen machen«, sagte Fabrizio. Er sah sich die raue Hand des Onkels vor seinem Gesicht an. Sie war anders als die des Vaters, größer, haariger, dunkler. Und sie roch anders.
»Deine Schwester hat dir gesagt, dass die Soldaten deinen Vater mitgenommen haben?«
»Ja, sie hat gesagt, es waren die Deutschen.«
»Hat sie gesagt, wohin?«
»Nein«, sagte Fabrizio.
»Morgen früh fahre ich nach Genua«, sagte der Onkel.
»Aber warum haben sie ihn denn mitgenommen? Hat er was gemacht?«
»Nein«, sagte der Onkel. »Er hat das Richtige getan.« Fabrizio spürte, wie sich die Muskeln des Onkels spannten.
»Holst du ihn ab?«, fragte er nach einer Weile.
»Wir werden sehen, was sie sagen.« Er drückte Fabrizio fester an sich. »Du wirst ab jetzt bei uns wohnen.«
»Und die Schule? Muss ich morgen in die Schule?«
»Nein«, sagte der Onkel. »Morgen nicht.«
»Kommen die Tiere auch in den Himmel?«
»Ich weiß nicht, Junge. Tiere sind nicht gut oder böse.«
Sie blieben sitzen, der Onkel zog den Mantel über Fabrizios Kopf, die Schafwolle war warm, aber sie kratzte an seinem Hals.
Am nächsten Tag fuhr Onkel Mauro nach Genua. Er hatte seinen besten Anzug angezogen, Tante Giulia hatte vier Stiegen Eier für die Verwandten eingepackt. Fabrizio und Tante Giulia standen auf den Stufen und winkten ihm, als er wegfuhr. In den nächsten Tagen kümmerte sich der ältere Knecht um den Hof,der jüngere ging zur Ortspolizei und erstattete Anzeige. Die Hühner kehrten am nächsten Tag zu den verbrannten Mauern zurück, eines der Schweine fand der Knecht des Onkels im Wald. Fabrizio bekam Besuch von dem alten Priester, er brachte Schokolade mit und schenkte ihm einen Rosenkranz mit einem kleinen silbernen Kreuz.
Mauro blieb vier Tage in der Stadt. Als er zurückkam, sah er müde aus, seine Schuhe drückten, der Anzug hing schief auf den Schultern und war fleckig geworden. Alle saßen um den Esstisch, als er den Zettel glatt strich. Er sagte, er habe Fabrizios Vater nicht sehen dürfen, aber er wisse jetzt, wo er sei. Der Zettel sah amtlich aus, dünnes Papier, zwei Stempel, einer links oben, einer rechts unten, Hakenkreuze. »Sicherheitsdienst« stand dort. Onkel Mauro sagte, die Partisanen seien besondere Gefangene der SS. Er las den Namen des Vaters vor, langsam, der Schrift folgte er mit den Fingern. Nach jedem Satz sprachen alle durcheinander und versuchten den Sinn zu verstehen. Dann stand dort noch der Name des Gefängnisses, es lag im Stadtteil Marassi in Genua. Die beiden Knechte nickten sich zu und zogen die Köpfe zwischen die Schultern. Und schließlich las der Onkel, die Gefangennahme des Vaters sei auf Anordnung des Außenkommandos der Sicherheitsdienste in Mailand erfolgt. Er las den Namen des Mannesvor, dem die Gefangenen jetzt unterstellt waren, ein Deutscher, Onkel Mauro bemühte sich, den deutschen Namen richtig auszusprechen. Auf dem Zettel stand: »SS-Sturmbannführer Hans Meyer«.
15
»SS-Sturmbannführer Hans Meyer«, sagte Leinen. Einige Zuschauer im Saal 500 atmeten laut aus, auf der Pressebank wurde es unruhig, ein paar Reporter standen auf, um ihre Redaktionen anzurufen.
»Hans Meyer«, sagte Leinen noch einmal, leiser, es schien, als spreche er zu sich selbst. Er wandte sich an die Vorsitzende.
»Frau Vorsitzende, wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne erst am nächsten Tag die Einlassung fortsetzen. Mein Mandant ist mitgenommen und … auch ich bin, ehrlich gesagt, etwas erschöpft.«
Leinen wusste, dass die Vorsitzende Richterin ärgerlich war. Monate hatte die Vorbereitung zu diesem Prozess gedauert, und jetzt würde es unmöglich sein, den Prozess in den restlichen drei Tagen zu erledigen.Natürlich war es das Recht der Verteidigung so zu handeln – aber Leinen war froh, dass die Vorsitzende sich nichts anmerken ließ. Sie wollte die Schöffen nicht gegen den Angeklagten einnehmen.
»Gut, Herr Verteidiger, es ist auch Mittagszeit. Dürfen wir denn erfahren, wie lange die Einlassung Ihres Mandanten noch dauern wird?«
Leinen hörte natürlich die Kritik, aber sie war ihm gleichgültig. »Ich werde sicher noch ein oder zwei Verhandlungstage brauchen«, sagte er. Er wusste, dass sein nächster Satz morgen in den Zeitungen stehen würde. Er hatte fast spüren können, wie sich die Stimmung im Saal drehte: Fabrizio Collini war nicht mehr der wahnsinnige Mörder, der einen führenden Industriellen ohne jedes Motiv erschossen hatte.
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