Der Fall Demjanjuk
Demjanjuks amerikanische Staatsbürger. Es sei der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen, wird Vera später einmal einem Reporter erzählen. Während der Zeremonie lässt Iwan seinen Vornamen offiziell in John ändern. Er zahlt fortan brav seine Steuern, bekommt zwei weitere Kinder, Irene und John junior. Er verliert Haare und legt Gewicht zu, geht sonntags in die ukrainisch-orthodoxe St. Vladimirs-Kirche, kauft sich 1970 ein bescheidenes gelbes Backsteinhaus mit Garten in Seven Hills, einem ruhigen Vorort von Cleveland, zieht Rosen, Geranien, Kartoffeln und Tomaten, hält den Rasen kurz und spricht am Wochenende mit den Nachbarn ein paar Worte in seinem schlichten Englisch, das nie den schweren osteuropäischen Akzent verlieren wird.
Es ist ein materiell halbwegs gesichertes, ein ziemlich ereignisloses Leben. Ein Leben, von dem ein fast verhungerter ukrainischer Kriegsgefangener 1942 wohl nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Seine Ankläger werden später behaupten, Demjanjuk habe sich in der Banalität des Alltags ein perfektes Versteck geschaffen. Sie werden sagen, dass er alles getan habe, um nicht aufzufallen.
Und seine Verteidiger werden dem entgegnen, Demjanjuk habe lediglich versucht, was Millionen andere unschuldige Bürger auch versucht haben: eine Familie zu gründen, in Frieden zu leben, dem amerikanischen Traum so nahe zu kommen wie möglich.
Doch John Demjanjuks amerikanischer Traum erfüllt sich nicht. Die Vergangenheit, die er hinter sich gelassen zu haben glaubte, in Europa, auf dem alten Kontinent, folgt ihm in die Neue Welt. Während der schwere Mann Anfang der siebziger Jahre noch Tag für Tag indie riesige Montagehalle von Ford in der Brookpark Road in Cleveland fährt, um Motoren zusammenzubauen, ein zuverlässiger Arbeiter unter Tausenden, beginnt sich weit weg, in Washington und New York, sein Schicksal zu wenden. Wieder, zum zweiten Mal nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, gerät Demjanjuk zwischen die Mühlsteine der Weltpolitik.
Das Haus der Demjanjuks in Seven Hills, Ohio.
Die Vereinigten Staaten haben sich um die Verfolgung von NS-Verbrechern lange Zeit nicht sonderlich intensiv gekümmert. In einer Studie über den Fall Demjanjuk schreibt der amerikanische Strafrechtler Stephan Landsman, «vom Ende der Nürnberger Prozesse bis zur Mitte der siebziger Jahre verfuhren die USA, als sei der NS-Völkermord ausschließlich Sache anderer Länder». Mehr noch, nach einem internen Bericht des US-Justizministeriums, der im Herbst 2010 öffentlich wurde, habe die amerikanische Regierung gezielt deutsche Nazis ins Land gelassen, um von deren Wissen zu profitieren. Der Bericht spricht von einer «Kollaboration der Regierung mit den Verfolgern».
Bis heute ist eine Verurteilung von NS-Verbrechen in den VereinigtenStaaten unmöglich, selbst wenn es sich um Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. Die US-Verfassung erlaubt ausschließlich die Strafverfolgung von Taten, die auf dem Territorium der Vereinigten Staaten begangen worden sind. Der einzige Weg, juristisch gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher vorzugehen, war – und ist – daher der Versuch, ihnen die US-Staatsangehörigkeit abzuerkennen und sie auszuweisen. Nicht als Strafe für ihre Taten im Krieg, sondern als Sanktion dafür, dass sie bei der Einwanderung in die USA ihre Verstrickung ins Hitler-Regime verschwiegen haben.
Allerdings wurden auch solche Schwindeleien bei der Einbürgerung lange eher lax gehandhabt. Obwohl Schätzungen zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu zehntausend mutmaßliche NS-Täter und Nazi-Kollaborateure Unterschlupf in den USA gefunden haben sollen, wurden nur ganze neun Fälle verfolgt, und selbst die scheiterten fast alle kläglich vor Gericht. Allan Ryan, ehemaliger Direktor des Office for Special Investigations (OSI), der für das Aufspüren von NS-Tätern in den USA zuständigen Einheit des US-Justizministeriums, erinnerte sich später, er habe den Eindruck gehabt, in den Vereinigten Staaten sei «ein Vorhang des Schweigens über den Holocaust gefallen».
Erst Anfang der siebziger Jahre beginnt sich diese Haltung zu ändern. Proteste von Holocaust-Überlebenden tragen dazu bei, ebenso die Erfahrungen des Vietnamkrieges. Den vermutlich entscheidenden Anstoß jedoch gibt 1973 die Auslieferung der US-Bürgerin Hermine Braunsteiner Ryan an die Bundesrepublik Deutschland. Die 1919 in Wien geborene Frau, die unauffällig im New Yorker Vorort Queens gelebt hatte, bis ein
Weitere Kostenlose Bücher