Der Fall Demjanjuk
nicht allein am Unwillen deutscher Staatsanwälte, war nicht notwendig Ausdruck des Wunsches, einen Schlussstrich zu ziehen unter die NS-Vergangenheit. Dass gegen die Trawniki nicht ermittelt wurde, hatte vielmehr in erster Linie juristische Gründe. Die ermittelnden Staatsanwaltschaften nahmen von sich aus an, dass bei keinem der Mordgehilfen auszuschließen sei, dass er sich in einer Notstandslage befunden habe. Und verzichteten deshalb gleich ganz auf Ermittlungen gegen Trawniki-Männer. Gleichsam automatisch wurde ihnen also zugebilligt, was Demjanjuk jetzt versagt werden soll, und zwar ohne dass sie sich auf den Notstand hätten berufen müssen. Ohne dass sie überhaupt verhört worden wären. Man mag dieses routinierte Absehen von Strafe heute für falsch halten – aber kann man im Prozess gegen Demjanjuk so einfach darüber hinweggehen, dass für ihn nun etwas anderes gelten soll als für alle anderen Trawniki, die in das Visier der Staatsanwälte gerieten?
Zweifel bleiben. Erhebliche Zweifel.
Nach vierzehn Monaten vor Gericht darf man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass John Demjanjuk als Wachmann in Sobibor gedient hat. Konkrete Taten können ihm nicht vorgeworfen werden – wir wissen nicht, wen Demjanjuk wann ins Gas getrieben oder misshandelt hat, wenn er es denn getan hat. Die Zahl der Fälle, die ihm zur Last gelegt wird, knapp über 28.000, ist fiktiv, mindestens ist es eine Hochrechnung aus den Transportlisten der SS, die auf vielerlei Annahmen und Hilfskonstruktionen beruht. Demjanjuk wird, mit Prittwitz zu sprechen, in «generalisierender Form» vorgeworfen, in das Mordsystem des Vernichtungslagers eingespannt gewesen zu sein und deshalb notwendig der Beihilfe schuldig zu sein.
Aber von ihm wird verlangt, dass er
konkret
darlegen muss, wie es ihm in Sobibor ergangen ist. Von ihm wird verlangt, dass er im Detail erklären muss, was er getan hat, um sich der Mordmaschinerie zu entziehen. Er soll ausführlich schildern, Schweigerecht hin oder her, wie sehr ihn der Befehl, beim Töten zu helfen, in Gewissensnöte gestürzt hat. Dieser Gegensatz von abstraktem Tatvorwurf und konkretem Entlastungsverlangen ist ein irritierender Wertungswiderspruch.
Und zwar umso mehr, als schon eine generalisierende Betrachtung von Demjanjuks Situation in Sobibor erhebliche Zweifel an seiner Schuld wecken kann.
Demjanjuk, der damals noch Iwan hieß, war 23 Jahre alt, als er nach Sobibor kam. Ein einfacher Landarbeiter, der mit Mühe die Volksschule geschafft hatte. Er hatte in Chelm den sicheren Hungertod vor Augen gehabt, als er sich entschied, Trawniki zu werden. Er kam in ein Lager, in dem furchtbarste Verbrechen geschahen, und musste sich daran beteiligen. Wir wissen nicht, ob er das bereitwillig tat oder nicht. Aber er wird gewusst haben, welche Strafe Deserteuren droht. Er selbst ist mindestens einmal mit Stockhieben bestraft worden; er kannte die Demütigung und seine eigene Stellung ganz unten in der Hierarchie der SS. Er tat Dienst in einem Lager, das mit Stacheldraht und Minenfeldern gegen Fluchtversuche (und gegen Angriffe von außen) gesichert war. Das Land ringsum war ihm fremd, und es wurde, wie halb Europa, von den Deutschen mit brutaler Gewalt besetzt gehalten. Seine Familie war fern, wenn sie denn überhaupt noch am Leben war, fünfhundert Kilometer und viele Tagesmärsche von Sobibor entfernt.
Kann man in einer solchen Situation die Flucht ohne Weiteres als eine realistische Handlungsalternative betrachten? Und kann man von einem Mann wie Demjanjuk in solcher Situation wirklich verlangen, dass er desertieren
muss?
Demjanjuk hat sich, nach allem was der Prozess an Erkenntnissen gebracht hat, als SS-Wachmann an schrecklichen Verbrechen beteiligt. Er hat das Recht gebrochen. Hat Demjanjuk Schuld auf sich geladen? Vermutlich schon. Aber man darf, wenn nicht alle Zweifel zu Lasten des Angeklagten gehen sollen, auch unterstellen, dass die grauenhaftenAlternativen, vor die ihn der Alltag in Sobibor immer wieder stellte, seine Schuld gemildert haben.
Das ist genau die Unterscheidung, die das Strafrecht zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld trifft. Rechtswidrig war Demjanjuks Handeln ganz gewiss, aber vorwerfen, vorwerfen kann man ihm schwerlich, dass er nicht sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat, um sich dem Mordregime zu entziehen.
Epilog
Am 13. Mai 2011, am frühen Nachmittag, verlässt John Demjanjuk die Haftanstalt in München-Stadelheim. Kaum vierundzwanzig Stunden sind
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