Der Fall Demjanjuk
machten? War er, wie Blatt formuliert, «ganz menschlich»? Oder war Demjanjuk einer der bestialischen SS-Schergen, die ihre Macht über die Häftlinge auslebten? Ging womöglich beides zusammen, heute ein kleines Gemauschel, morgen Peitschenhiebe und Gemetzel? Oder hat er sich aus allem herauszuhalten versucht, soweit er konnte, warum auch immer: aus Angst, aus Abscheu, aus Trägheit?
Wir wissen es nicht. Und werden es wohl nie erfahren.
Unklar ist auch, ob die Trawniki eine disziplinierte, loyale Truppe waren. Taten sie, was ihnen befohlen wurde, mit Eifer und innerer Überzeugung? Oder konnten sie nur mit Drohung und Gewalt im Dienst gehalten werden? Auch darüber lässt sich allgemein kaum etwas sagen.
Der Nebenklägeranwalt Arno Laurent hat in seinem Schlussplädoyer darauf hingewiesen, dass es beim Sobibor-Aufstand vom 14. Oktober 1943 mit wenigen Ausnahmen gerade die fremdvölkischen Wachleute gewesen seien, «die mit ihrem unbarmherzigen Schusswaffengebrauch» halfen, den Aufstand niederzuschlagen: «Eine solche Reaktion der Wachleute auf die einmalige Gelegenheit, den allgemeinen Aufruhr zur eigenen Flucht zu nutzen, verdeutlicht allzu sehr, auf wessen Seite sie» standen.
Aber gilt das für alle, ausnahmslos? Immer wieder hat es auch Trawniki gegeben, die Befehle verweigert haben, die zu fliehen versuchten,insgesamt vermutlich sogar einige Hundert der insgesamt rund 5000 Wachmänner. Angelika Benz, eine der besten Kennerinnen der Situation der Trawniki-Wachmänner, spricht von einem insgesamt «sehr durchwachsenen» Bild. Während es offenbar Hilfskräfte gab, die ihre «sadistische Ader» auslebten und «ihre Machtposition den Juden gegenüber» nutzten, sei die Zahl der Trawniki, die sich verweigert hätten, immer weiter gewachsen, je näher das Ende des Krieges rückte und die Erfolge der Deutschen in Niederlagen umschlugen. Auch in Sobibor habe es «etliche Fluchtversuche» gegeben, sagte der Sachverständige Pohl vor dem Münchner Gericht; einige seien sogar gelungen. Und Überlebende des Lagers haben berichtet, dass wohl mindestens zwei Mal ukrainische Wachmänner gemeinsam mit Juden die Flucht aus Sobibor versucht hätten.
Heißt das nun, dass eine Flucht aus Sobibor leicht war, oder wenigstens, dass sie häufig vorkam? Und, beinahe noch wichtiger für den Fall Demjanjuk: Wie reagierte die SS auf Fluchtversuche von Trawniki? Wurden die Wachmänner, wenn sie nach einem Fluchtversuch wieder ergriffen wurden, zwangsläufig hingerichtet? Selbst das lässt sich allgemein nicht sagen. Der historische Befund, soweit er sich überhaupt rekonstruieren lässt, ist nicht eindeutig. Es hat Fälle gegeben, in denen Deserteure erschossen oder «vor versammelter Mannschaft» aufgehängt wurden. Auch davon hat vor Gericht der Sachverständige Pohl berichtet. Die Historikerin Angelika Benz erwähnt den Fall von zwei Trawniki-Männern aus Belzec, die den Befehl verweigerten und «vor ihren Kameraden erschossen» wurden. Es gab aber offenbar auch Fälle, in denen Trawniki nach Urlaub oder Ausgang unerlaubt dem Dienst fernblieben und lediglich mit mehrmonatigem Arrest bestraft wurden.
So scheint es auch Demjanjuk mindestens ein Mal ergangen zu sein. In den Akten finden sich Hinweise, dass er im Januar 1943 an seinem damaligen Einsatzort, dem KZ Majdanek, einmal zu spät von einem Ausgang ins Lager zurückgekehrt ist und dafür mit Stockschlägen bestraft wurde. Aber wir wissen nicht, ob Demjanjuk je versucht hat, zu desertieren. Wir wissen nicht, ob er aufbegehrt hat gegen die Mordbefehle. Wir wissen erst recht nicht, ob er je mit dem Gedanken gespielt hat, sich aus dem Lager zu stehlen und Richtung Ukraine zu fliehen.
Nun stellt sich die Frage: Kann man einem Angeklagten, der kein Wort zu den Verhältnissen in Sobibor sagt, der sogar ausdrücklich bestreitet, je als SS-Wachmann in Sobibor gewesen zu sein – kann man einem solchen Angeklagten überhaupt zubilligen, er habe sich in einer Notlage befunden, er habe geglaubt, er könne nur entweder beim Töten mittun oder selbst getötet werden? Wäre das nicht eine allzu luftige, rein theoretische Gedankenkonstruktion?
So sehen es die Staatsanwälte und die Nebenkläger. Sie argumentieren, wer auf eine Schuldminderung oder gar einen Schuldausschluss wegen Notstands hoffe, der müsse sagen, wie er diese Notstandslage empfunden habe, der müsse erläutern, wie er sich daraus zu befreien versucht habe. Der müsse, kurz gesagt, reden.
Cornelius Nestler hat es in
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