Der Fall Demjanjuk
seinem Schlussplädoyer so formuliert: «Wer in einer konkreten Situation nicht in der Lage war», den Geboten des Rechts zu folgen, «ist deswegen noch lange nicht entschuldigt, aber er kann auf ein bisschen Verständnis hoffen, vielleicht sogar auf Mitgefühl, wenn er uns erklärt, warum es ihm nicht gelungen ist, das Richtige zu tun. Und wenn er dabei Reue zeigt, wenn er erklärt, dass und warum es falsch war, was er gemacht hat. … Aber dieser Angeklagte will uns nichts erklären. Er ringt mit keinem Wort um unser Verständnis. Der Starrsinn seiner Lebenslüge und das Schicksal, Verteidiger zu haben, denen nichts anderes einfällt, als die Lebenslüge aufrecht zu erhalten … nehmen dem Angeklagten auch die letzte Chance, dass wir für ihn auch nur ein Jota an Mitgefühl entwickeln.»
Ein hartnäckiger Schweiger wie Demjanjuk, so die Logik, hätte keine Chance, sich auf eine Notstandssituation zu berufen. Der Betreffende, so hat einer der Nebenklägeranwälte argumentiert, «muss zittern» vor Angst und Verzweiflung, und er müsse «alles versucht haben, sich aus der Situation zu befreien». Das dominierende Motiv all seines Tuns müsse der Versuch gewesen sein, das eigene Leben zu retten. So habe der Bundesgerichtshof entschieden. Rechtsanwalt Hardy Langer aus Berlin hat die These in seinem Schlussvortrag zugespitzt: «Es kommt allein darauf an, was konkret der Angeklagte gedacht hat, und nicht, was er abstrakt in einer solchen Situation womöglich gedacht haben könnte … Dies würde zum absurden Ergebnis führen, dass allein die äußeren Umstände – Verpflichtung nach Trawniki und Einsatz im Vernichtungslager– alles entschuldigen würden. Selbst Wachleute, die ihrem Dienst im Vernichtungslager gern und eifrig nachgekommen sind, würden dann unter diesen absoluten Befehlsnotstand fallen. Dies wäre ein Freibrief zur Mitwirkung am Massenmord.»
Demjanjuk also käme nur «raus», wenn er einräumen würde, dass er in Sobibor war und alles versucht habe, um von dort zu verschwinden. Gleichsam auf dem Umweg über die Notstandsdebatte wäre so womöglich doch noch das zentrale Anliegen des Prozesses zu erreichen – Demjanjuks Schweigen zu brechen.
Aber Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch lehnt eine solche Konstruktion empört ab. Wer die Schuldminderung des Paragraphen 35 Strafgesetzbuch nur dem gewähre, der rede, «der hebelt das Recht auf Schweigen im Prozess aus, immerhin einen Verfassungsgrundsatz. Das kann nicht sein.» Busch wittert so etwas wie eine juristische Falle der «Gegenseite», die versuche, ihre Beweislücken zu schließen. Nein, sagt Busch, der Notstandsparagraph 35 müsse auch für den gelten, der schweigt.
Ähnlich sieht es der Frankfurter Strafrechtler Cornelius Prittwitz. In einem nachdenklichen Aufsatz über den Fall Demjanjuk schreibt er: «Man könnte versucht sein, es sich leicht zu machen und darauf verweisen, dass der Angeklagte Demjanjuk bestreitet, überhaupt im Vernichtungslager Sobibor gearbeitet zu haben, also – konsequenterweise – auch nicht geltend gemacht hat, dass er sich objektiv oder zumindest subjektiv in einer Befehlsnotstandssituation befunden hat. Aber damit würde man es sich zu leicht machen. Der deutsche Prozess ist kein Parteienprozess, das Gericht ist nicht auf das vom Angeklagten Vorgebrachte angewiesen, es darf sich aber nicht darauf beschränken. Wenn es von der Anwesenheit Demjanjuks im Lager überzeugt ist und auch davon, dass alle Trawniki Beihilfe am Massenmord begangen haben, dann muss es in derselben generalisierten Form die Frage stellen, ob die Rechtswidrigkeit oder Schuld des Angeklagten durch solche Umstände ausgeschlossen wird.»
Bislang, bis zum Fall Demjanjuk, haben deutsche Gerichte genau das beinahe routinemäßig getan. Beim wichtigsten Sobibor-Prozess 1966 vor dem Landgericht Hagen wurden fünf deutsche SS-Männer wegen sogenannten Putativnotstandes freigesprochen. Die Richterglaubten ihnen, dass sie gefürchtet hätten, selbst mit dem Tod bestraft zu werden, wenn sie sich den Mordkommandos widersetzten. Allerdings haben sich diese Angeklagten auch ausdrücklich auf ihre Zwangssituation berufen.
Noch großzügiger war die bundesdeutsche Justiz stets mit den «fremdvölkischen» Hilfstruppen der SS. Keinem nichtdeutschen Trawniki-Mann ist in der Bundesrepublik je der Prozess gemacht worden. Einige von ihnen sind vor Gericht erschienen, aber nicht als Angeklagte, sondern nur, um als Zeugen gegen deutsche Angeklagte auszusagen. Das lag
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