Der Fall Demjanjuk
Wachmann gewesen zu sein. Er ist angeklagt, weil er sich als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor am Morden beteiligt haben soll. Und als er das tat, von Ende März bis Mitte September 1943, da mögen der Hunger und das Elend von Chelm noch präsent in seiner Erinnerung gewesen sein – seinen Alltag aber bestimmten sie nicht mehr. Längst nahm er an der regelmäßigen Verpflegung der Wachleute teil, er trug eine Uniform und eine Waffe, er bekam Sold und sogar Urlaub ab und an. Er musste nicht mehr jeden Tag fürchten, an Hunger oder an der Ruhr zu krepieren. Das Leid der Kriegsgefangenenlager lag hinter Demjanjuk. So grauenvoll es auch war, es vermag nicht die Beihilfe zum Mord in Sobibor zu entschuldigen.
Man muss, wenn man nach Demjanjuks Schuld fragt, den Blick nach Sobibor selbst richten, auf die Umstände des Lageralltags, auf die Zwänge dort, auf seine spezifische Situation im Frühjahr und Sommer 1943. Nur diese Zwänge können, wenn überhaupt, Demjanjuks Tun entschuldigen.
Das Problem ist allerdings: Wir wissen nicht, was Demjanjuk in Sobibor erlebt hat. Hat er den relativ ruhigen Dienst im Lager den Schrecken der Front vorgezogen? Hat er die Langeweile der Tage zwischen den Transporten genossen, den Gang zu den Huren ab und zu, der denTrawniki gestattet wurde? Hat er die Macht ausgelebt, die ihm plötzlich verliehen war – die Macht über die Juden im Lager, den Schauder, einmal nicht auf der Seite der Opfer zu stehen? War er einer der Sadisten, die die Arbeitsjuden mehr fürchteten als die SS-Leute? Oder hat er verflucht, nach Sobibor gekommen zu sein, in die Hölle dieses Lagers? Was hat das tausendfache Morden mit ihm gemacht? Hat er Fluchtpläne geschmiedet? Hat er versucht, sich versetzen zu lassen?
Wir wissen es nicht. Und wir werden es nie erfahren, solange Demjanjuk hartnäckig schweigt.
Noch vertrackter wird das Problem, weil die Rolle der Wachmannschaften in den Vernichtungslagern ganz allgemein weitgehend unerforscht ist. Es lassen sich daher kaum Rückschlüsse vom «gewöhnlichen» Verhalten ziehen auf das wahrscheinliche Verhalten von Demjanjuk.
Die wenigen Überlebenden von Sobibor haben berichtet, dass es unter den ukrainischen Wachmännern verschiedene Typen gegeben habe. Viele standen im Ruf infernalischer Grausamkeit. Aber es gab auch einige, die mit den wenigen jüdischen Arbeitshäftlingen Geschäfte machten. Die Trawniki, so hat die Historikerin Angelika Benz geschrieben, hätten in ihrer Rolle als Werkzeug und verlängerter Arm der SS unterschiedlich reagiert und agiert, Einzelne hätten den Juden geholfen, während andere zu Bestien geworden seien. Manchmal, sehr selten, so hat es Thomas Blatt in seinen Erinnerungen an die Hölle von Sobibor geschildert, «konnten die Arbeitshäftlinge in Lager II die ukrainischen Wachen bestechen, so dass Kassiber in andere Teile des Lagers geschmuggelt wurden.» Und immer mal wieder steckten die Trawniki den jüdischen Gefangenen Wodka und Würste oder andere Lebensmittel zu, im Tausch gegen Geld, Schmuck oder Uhren, die die Häftlinge im zurückgelassenen Gepäck der Ermordeten fanden. Einen solchen Fall hat auch Thomas Blatt selbst erlebt.
Er habe sich, schreibt er in seinem Buch, wie vorher vereinbart, am Rand des Lagers einem Busch genähert, «wo ich die Beute des ukrainischen Wachmanns in Empfang nehmen sollte. … Er zwinkerte mir wissend zu. … ‹Es ist alles da›, sagte er leise und schlenderte davon. Ich tat, als wollte ich ein bisschen Abfall aufheben, griff mit der Hand hinein und spürte, dass dort eine Flasche und eine Wurst lagen. Die Wache drehte mir den Rücken zu, damit mich niemand sehen konnte, und ichsteckte die Flasche und die Wurst unter meinen Gürtel. Dafür legte ich die goldene Uhr unter den Busch.
Ich war aufgeregt und fühlte mich ganz eigenartig. Der Wachmann, der ja mein Feind war und vor dem ich eigentlich hätte Angst haben müssen, war offenbar ganz menschlich. Ich merkte ihm an, dass er sogar noch mehr Angst hatte als ich. Während ich versuchte, meinen Tod hinauszuzögern, war er frei. Aber jetzt war er mit mir auf einer Stufe – einen kurzen Moment hatten wir ein und denselben Gegner.»
Es ist eine bewegende, eine irritierende Geschichte, die die schillernde Rolle der Trawniki zwischen Deutschen und Juden anschaulich macht. Nur: Lässt sich anhand dieser Episode irgendetwas über Demjanjuks mutmaßliches Verhalten sagen? War er auch einer von denen, die Geschäfte mit den todgeweihten Juden
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