Der Fall Demjanjuk
erwischen. Auf der Treppe drängte ich mich eilig an einem älteren Ehepaar aus den Niederlanden vorbei und murmelte zur Entschuldigung: «Excuse me. I’m sorry». Zwei Stufen später wurde mir der Doppelsinn der Floskeln fastschockartig klar. Ja, auch darum geht es hier, schoss es mir durch den Kopf. Das Verfahren gegen John Demjanjuk ist auch so etwas wie die juristische Form, um zu sagen: «We are sorry.»
Aber stimmt denn das überhaupt?
Anderthalb Jahre sind vielleicht keine übermäßig lange Zeit für einen Prozess, in dem es um so schwierige und fundamentale Probleme geht wie in dem Strafverfahren gegen John Demjanjuk. Aber es ist Zeit genug, um ins Grübeln zu kommen. Und je länger ich über den Fall nachdachte, desto mehr wuchsen die Zweifel in mir.
Drei Fragen waren es vor allem, die mich umgetrieben haben, bis zum Schluss. Da ist, erstens, die Frage nach Demjanjuks konkreten Taten. Angeklagt – und verurteilt – wurde Demjanjuk für Taten an ganz genau bestimmten Tagen, an den Tagen nämlich, an denen Transporte aus dem niederländischen Lager Westerbork in Sobibor eintrafen. Dank der penibel geführten Transportlisten kennen wir die Namen der Opfer, die an diesen Tagen im Gas ermordet wurden. Aber wie steht es um die Gewissheit, dass Demjanjuk an eben diesen Tagen auch am Morden beteiligt war, dass er nicht krank, auf Ausgang, zu einem Außeneinsatz abkommandiert oder aus irgendeinem anderen Grund nicht dabei war? Dass er in Sobibor war, dafür hat der Prozess genug Beweise erbracht, und es ist sicher wirklichkeitsfremd anzunehmen, er habe immer just dann gefehlt, wenn ein Zug aus Westerbork ankam. Aber ist es, umgekehrt, völlig auszuschließen, dass Demjanjuk bei dem einen oder anderen der Transporte nicht dabei war, aus welchem Grund auch immer – und wer trägt die Last, das zu beweisen? Hier wurde eher mit Wahrscheinlichkeiten operiert als mit Gewissheiten.
Mehr und mehr begann ich, zweitens, zu grübeln, ob es sich die Ankläger – und am Ende auch die Richter – nicht zu leicht gemacht haben mit der Frage nach Demjanjuks Schuld. Zu rasch, zu oberflächlich, so schien mir, gingen sie über die mögliche Zwangslage des Dreiundzwanzigjährigen hinweg, zu kühl haben sie konstatiert, der Angeklagte habe angesichts der ungeheueren Verbrechen, an denen er in Sobibor beteiligt war, das Risiko auf sich nehmen müssen, auf der Flucht erschossen oder anschließend hingerichtet zu werden. Aber kann man wirklich eine Rechtspflicht zur Flucht annehmen, und jeden schuldigsprechen, der nicht zu desertieren gewagt hat? An diesem Punkt ist das Urteil in meinen Augen nicht überzeugend.
Drittens schließlich habe ich mich immer wieder gefragt: Kommt dieser Prozess nicht zu spät? Zu spät für den Angeklagten, für den alle gängigen Strafzwecke eigentlich ausscheiden: Dieser alte, kranke Mann hätte in der Haft kein anderer, besserer Mensch mehr werden können, und Wiederholungsgefahr bestand ohnehin zu keinem Zeitpunkt. Zu spät für die Zeugen, von denen einer, Thomas Blatt, im Verfahren selbst erklärte, er könne sich nicht mehr an die Gesichter seiner ermordeten Eltern erinnern, und schon gar nicht an einen einzelnen Wachmann. Zu spät aber vor allem für das Land insgesamt: Die bundesdeutsche Justiz hat nach 1945 im Umgang mit NS-Straftätern fast komplett versagt. Das ist in dem Prozess gegen Demjanjuk noch einmal drastisch deutlich geworden. An diesem Versagen aber ändert es auch nichts mehr, dass jetzt, kurz bevor die letzten Täter und Opfer sterben, noch einmal einer wie Demjanjuk verurteilt wird. Es ist allenfalls ein Epilog zu einer beschämenden Geschichte.
Tatsächlich leben wir auf der Schwelle zur vollständigen Historisierung des Holocaust. Auf der Schwelle, die die Epoche der Zeugenschaft von der Zukunft eines Erinnerns ohne die Dabeigewesenen trennt. In seiner Parabel «Der Augenzeuge» schreibt der Schriftsteller Jorge Luis Borges, «in der Zeit gab es einen Tag, da die letzten Augen erloschen, die Christus gesehen hatten». Dasselbe wird auch für die Todeslager der Nazis im Osten gelten. Irgendwann, schon bald vermutlich, werden die letzten Menschen sterben, die Auschwitz noch mit eigenen Augen gesehen haben, oder Treblinka, Belzec, Sobibor. Schon heute leben nur mehr wenige hochbetagte Greise, allesamt achtzig oder neunzig Jahre alt, die sich noch an die Hölle des Holocaust erinnern können, als Opfer oder als Täter. Wenn sie die Augen für immer schließen, wird sich nicht
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