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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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vergangen, seit ihn das Landgericht München zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt, die Vollstreckung der Haft aber sogleich ausgesetzt hat, aus Rücksicht auf das Alter des Angeklagten. Noch ein letztes Mal hat Demjanjuk in seiner Zelle übernachtet, auf eigenen Wunsch, wie ein Justizsprecher betont. Dann bringt ihn ein Krankentransporter in ein Männerwohnheim an der Pilgersheimer Straße, wo er das Wochenende verbringt. Im Gepäck hat der Einundneunzigjährige Medikamente für eine Woche, einen Arztbrief und seine Entlassungspapiere.
    Der Fall Demjanjuk ist damit entschieden, vorläufig jedenfalls. Abgeschlossen ist er nicht. Der gebürtige Ukrainer ist verurteilt, seine Schuld ist vom Gericht festgestellt, aber bis der Bundesgerichtshof über seine Revision entschieden hat, bleibt er auf freiem Fuß. Für Demjanjuk muss das wie ein dejà vu erscheinen, als befinde er sich in einer Endlosschleife des Schicksals, die sich immerfort wiederholt. Er könnte gar auf den Gedanken kommen, das Glück sei auf seiner Seite.
    Seit 1977 haben die amerikanischen Behörden gegen ihn ermittelt, aber am Ende kehrte er doch wieder zu seiner Familie in Cleveland, Ohio, zurück; zumindest für einige Zeit. Fast acht Jahre lang hat Demjanjuk in Israel im Gefängnis gesessen, mehrere davon in der Todeszelle,dann wurde er wieder freigelassen – obwohl auch die Richter in Jerusalem davon überzeugt waren, dass er Wächter in Sobibor gewesen sei. Und nun, fast auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem er in Deutschland in Untersuchungshaft genommen wurde, öffnen sich die Gefängnistore in Stadelheim für ihn, und er kann gehen. Schuldig, aber frei – ohne ein Geständnis, ohne ein Wort der Reue, ohne ein Zeichen des Bedauerns.
    Hat hier die Sturheit eines Unbelehrbaren gesiegt, die Dickschädeligkeit eines ukrainischen Bauernsohns? Oder hat doch die Gerechtigkeit triumphiert, über alle Lügen und Ausflüchte, auch über die Zeit, die unablässig verrinnt? Kommt es eher auf den Schuldspruch an, nicht auf das Strafmaß, wie die Ankläger und die Anwälte der Nebenkläger gleich nach dem Urteil erklärt haben, um die Haftentlassung zu relativieren? Oder sind das alles falsche Kategorien, ist dieser Prozess überhaupt noch mit den üblichen Maßstäben zu messen, nach all den Jahren, nach all seinen bizarren Wendungen?
    Was bleibt nach achtzehn Monaten und 93 Verhandlungstagen?
    Anderthalb Jahre lang habe ich den Prozess gegen John Demjanjuk beobachtet, noch fast ein Jahr länger habe ich mich in diesen Fall mit seiner unglaublich verwickelten Vorgeschichte vertieft. Ich war nicht an jedem Verhandlungstag in München dabei, das hätte die Geduld meiner Redaktion in Hamburg überstrapaziert, aber an vielen; häufig genug allemal, um in den Sog dieser einzigartigen Geschichte zu geraten.
    Immer wieder hat mich dieser Prozess hin und her geworfen, hat mich in Trauer und Wut gestürzt, in Entsetzen und Empörung, hat Zweifel und Beklommenheit provoziert. Natürlich, auch ich habe manches Mal gegähnt, wenn schier endlose Dokumente verlesen wurden. Auch mir standen, wie wohl allen Zuhörern im Saal, Tränen in den Augen, als die Nebenkläger den Schmerz beschrieben, den sie noch heute, jeden Tag empfinden, weil ihnen Mutter und Vater, Bruder und Schwester, Geliebte oder Verlobter genommen wurden.
    Ich habe mich, zugegeben, mehr als einmal über Demjanjuks Verteidiger geärgert, über seine Ausfälle, seine immer gleichen Anträge, über seinen schrillen Ton, und ich habe lange darüber nachgedacht, obein anderer Anwalt für Demjanjuk womöglich ein besseres Ergebnis erreicht hätte; juristisch vermutlich nicht, im Umgang mit der Öffentlichkeit ganz gewiss. Ich fand es immer wieder verstörend, wie der Prozess eintauchte in die Sprache des «Dritten Reiches», wie selbstverständlich vom «Generalgouvernement» die Rede war, von «SS-Totenkopfverbänden» und der «Operation Barbarossa». Gewiss, das sind die historisch korrekten Begriffe, präziser als jedes andere Wort benennen sie Ereignisse und Institutionen, aber sie so bruchlos zu gebrauchen, ohne jede rhetorische Distanz, das hat mich unangenehm berührt.

    Erstmals ohne Baseballkappe und Sonnenbrille: John Demjanjuk wird von seinem Anwalt Ulrich Busch aus dem Gerichtssaal geschoben.
    Und immer wieder war ich auch von meinen eigenen Reaktionen überrascht. Einmal stieg ich in einer Verhandlungspause auf die Empore, um einen besseren Blick auf Demjanjuk zu

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