Der Fall Demjanjuk
vor Weihnachten 2009, habe ich eine Gruppe von ihnen in ihrem Hotel besucht. Viele der Nebenkläger hatten sich im «Hotel Europa» in der Dachauer Straße 115 einquartiert (zwei beziehungsreiche Namen, wohl wahr). Bei Bier und Tee und Wasser redeten wir lange darüber, warum sie nach München gekommen waren, und was sie sich von diesem Prozess versprachen. Nicht Rache, darüber waren sich die vier einig. Sie sahen eine Chance, ihre Geschichte zu erzählen. Und sie wollten die Hoffnung nicht preisgeben, Demjanjuk könne sich doch noch entschließen zu reden. Es war ein bewegendesGespräch, emotional, sehr konzentriert und doch von einer beeindruckenden Gelassenheit. Der vielleicht bewegendste Moment aber kam, als ich mich aufmachte, wieder zu gehen.
Gemeinsam mit den vier Niederländern verließ ich den kleinen Nebenraum, in dem wir beieinander gesessen hatten, und betrat mit ihnen den Speisesaal des Hotels, in dem sie schon erwartet wurden. Es war der Abend des vierten Verhandlungstages, an dem mehrere der Nebenkläger vor Gericht ausgesagt hatten. Nun war hier im Restaurant eine lange Tafel gedeckt, an die auch meine Gesprächspartner traten, nachdem wir uns verabschiedet hatten. Gelächter hing über dem Tisch, eine gelöste Heiterkeit, als sei dies eine ganz gewöhnliche Reisegruppe. Die Gläser waren mit Bier und Rotwein gefüllt, gleich würde das Essen kommen. Ich blieb noch einen Moment stehen, um sie aus der Distanz zu beobachten. Dieselben Männer und Frauen, die am Morgen unter Tränen ausgesagt hatten, saßen und standen nun beieinander, sie scherzten und schwatzten. Man konnte ihnen die Erleichterung geradezu ansehen. Für sie, dachte ich, ist der Prozess in gewisser Weise bereits zu Ende. Sie haben getan, worauf sie ein Leben lang gewartet haben; sie haben getan, was sie zu tun hatten: Sie haben Zeugnis abgelegt.
Ein Gewinn war der Prozess gegen John Demjanjuk aber fraglos auch für die historische Aufklärung. Das Münchner Verfahren hat das Vernichtungslager Sobibor dem Vergessen entrissen. Das Lager, das sogar vielen Fachleute nur vage bekannt war, obwohl dort innerhalb kurzer Zeit mindestens 250.000 Menschen ermordet wurden, ist noch einmal vor aller Öffentlichkeit beschrieben worden, in all seinem Schrecken und seiner grauenhaften Effizienz. Das ist, pathetisch gesprochen, auch ein Triumph über die Erinnerungspolitik der Nazis. Deren Versuch, das Lager nach dem Aufstand vom Herbst 1943 vergessen zu machen, alle Überreste einzuebnen, alle Spuren zu verwischen, diesen Versuch der Geschichtsfälschung hat der Prozess durchkreuzt. Das ist ein bleibendes Verdienst, das durchaus Folgen für die Gegenwart hat.
Das Urteil signalisiert nämlich auch den Tyrannen und Folterknechten unserer Zeit, den Völkermördern und ihren Handlangern, dass die Welt entschlossen ist, nicht zu vergessen, dass sie auch nach Jahrzehnten noch versucht, die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen,die Unterlinge genauso wie die Befehlshaber. Ob man das Urteil angesichts dieser Botschaft tatsächlich als «Meilenstein in der Geschichte der Strafverfolgung von Nazi-Verbrechern» bezeichnen muss, wie Cornelius Nestler, der führende Vertreter der Nebenkläger, gleich nach dem Urteil geschrieben hat, kann dahinstehen.
Wichtiger ist zunächst etwas anderes. Sollte der juristische Kern des Münchner Urteils vor dem Bundesgerichtshof Bestand haben, sollten also auch die höchsten deutschen Strafrichter die Argumentation bestätigen, die Ausübung des Wachdienstes in einem der Todeslager sei ein funktioneller Tatbeitrag zum organisierten Massenmord, also Beihilfe zum Holocaust, und würde sich dieser Standpunkt auch bei den Staatsanwaltschaften durchsetzen, dann würden Strafverfahren gegen eine ganze Reihe von ehemaligen Trawniki möglich, die seit Jahrzehnten unbehelligt in Deutschland leben. Tatsächlich haben – noch während des Prozesses gegen Demjanjuk – bereits Ermittlungen gegen den Zeugen Alex Nagorny begonnen, wegen seines Dienstes als Wachmann in Treblinka und Flossenbürg.
Es könnte also durchaus sein, dass das Urteil gegen John Demjanjuk so etwas wie ein Präjudiz werden könnte, ein juristischer Türöffner. Ganz gleich aber, ob weitere Prozesse folgen werden: Der Schuldspruch gegen Demjanjuk ist rechtshistorisch in jedem Falle deshalb von Bedeutung, weil in München fast siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal ein osteuropäischer Henkersknecht der Nazis verurteilt worden ist. Einer der
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