Der Fall des Lemming
nur tief genug gesunken sein, um sich vom Grund des Sumpfes abstoßen zu können, vielleicht muss das Pendel des Schicksals an jenem äußersten Kurvenpunkt angelangt sein, an dem es – nur für den Bruchteil eines Augenblicks – stillsteht, bevor der unaufhaltsame Rückschwung einsetzt. Vielleicht hat der Mensch nur in jenem unmessbar kleinen Moment des Verharrens die Chance, seiner vorgegebenen Bahn zu entkommen, durch eine unsichtbare Tür zu treten, hinüber auf die lichte Seite der Medaille …
Der Lemming spürt, wie sich sein Bauch entspannt, wie sich ein Wort in seinem Zwerchfell formt und wächst und langsam höher steigt, steil hinauf durch die Brust und die Luftröhre bis kurz vor das Gaumenzäpfchen. Dort hält er es an und lutscht und saugt und kaut genüsslich darauf herum, statt es einfach auszuspucken.
Adieu, Pensionsanrechnungszeitraum! Leb wohl, Krankenversicherung! Servus, Urlaubspauschale! Habe die Ehre, Kabelfernsehen! Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst … Also lebe, Lemming! Lebe!
Von den irritierten Blicken Cernys und Krotznigs begleitet, erhebt er sich gemächlich von seinem Platz.
«Nein», sagt er ruhig.
Das ist das Wort des Lemming gewesen. Und weil es so gut getan hat, es auszusprechen, fügt er hinzu: «Ich kündige.» Die Welt scheint stillzustehen, während der Lemming aus Cernys Büro in den Vorraum tritt, auf den Flur hinaus, die Stiegen hinab und auf die Straße. Mit einem kleinen Nein hat er den Fluss der Zeit verlassen, den Lauf der Dinge angehalten. Er weiß, was das bedeutet: kein Geld mehr für unnötige Taxifahrten, keine neue Kaffeemaschine, kein Handy. Nur ein marodes Konto, ein hochgerecktes Kinn und ein gestärktes Rückgrat. Ja, und einen Mörder, den es zu finden gilt. Es war die richtige Entscheidung.
«Ham s’ dir ins Hirn g’schissen oder was?»
Krotznig keucht. Er hat die erste Verblüffung überwunden und ist dem Lemming nachgeeilt. Seine Nasenflügel beben.
«Reg dich ab, Krotznig …»
«Was d’ vorhast, will i wissen!»
«Nichts. Arbeitslos bin ich.»
«Ned deppert reden! Sag scho!»
«Falls du den Grinzingermord meinst, da hab ich was gutzumachen …»
Das ist es, was Krotznig hören wollte. Blitzartig packt er den Lemming am Revers und zieht ihn ganz nahe an sich heran. Krotznigs zu schmalen Schlitzen verengte Augen funkeln.
«Jetzt sperr s’ amal ganz weit auf, deine Ohrwascheln, aber ganz weit! Wenn’s d’ glaubst, dass du mir in die G’schicht einescheißen kannst, dann, dann … gib ja Acht auf deine Knochen! Am Zentralfriedhof ham s’ no g’nug Platzerln frei, da kannst dann den Grinzinger persönlich befrag’n!»
«Darf ich jetzt gehen, Herr … Bezirksinspektor?»
«Aber natürlich, der Herr …»
Krotznig lockert den Griff, tätschelt zärtlich die Wange des Lemming und zieht dann langsam die Hand zurück. «Und gut aufpassen, dass d’ dem Onkel Adi ned in die Quere kummst. Ganz b’sonders gut aufpassen …»
6
Als er zwei Stunden später seine Wohnung betritt, schlägt dem Lemming ein unverkennbares Aroma entgegen. Immerhin scheint Castro noch am Leben zu sein und sogar Ansätze hundegemäßen Verhaltens zu zeigen, wenigstens im Hinblick auf seine einfachsten Körperfunktionen. Der Lemming stellt die mit Beißringen und Rinderknochen, Kuttelfleck und Haferflocken gefüllten Einkaufstaschen ab und tritt ins Schlafzimmer.
Auf dem großen hölzernen Bett steht ein großes weißes Zelt. Das Zelt hat einen Schwanz. Wie das Dach einer winterlichen Almhütte ragt die Decke des Lemming in die Luft, getragen von Castro, dem Hund in gewohnter Erstarrung. Oben, am Berghang hinter der Hütte, entdeckt der Lemming sofort die apere Stelle im Schnee, den Misthaufen auf seinem frisch bezogenen Kissen.
Mit angehaltenem Atem tritt der Lemming heran und hebt das Unsägliche hoch, um es in Richtung Toilette zu schaffen. Er trägt den Polster vor sich her wie ein magenkranker Kellner das Tablett, würgend und den Arm weit von sich gestreckt. Als könnten ihm giftige Dämpfe die Netzhaut verätzen, kneift er die Augen zusammen und tastet sich vor bis in den Flur, wo noch die Einkaufstaschen stehen. Die Einkaufstaschen …
Während er stürzt, muss der Lemming an Murphys Gesetze denken.
1949 kommentierte der amerikanische Flugzeugkonstrukteur Edward A. Murphy einen missglückten Beschleunigungstest mit den Worten: «Wenn etwas schief gehen kann, dann wird es auch schief gehen.» Dieses oberste Postulat der nach ihm
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