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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Fäusten im Türrahmen, und ihre Augen sprühen Funken.
    So viel Stimme in so wenig Mensch … Das ist des Lemming erster Eindruck von der frisch gebackenen Witwe. Einen solchen Empfang hätte er sich nicht erwartet. Hinterbliebene von Mordopfern pflegen kurz nach der Tat erschüttert zu sein oder doch wenigstens erschüttert zu tun, je nachdem, wie viel sie zu verbergen haben. Keine Spur davon bei Nora Grinzinger.
    «Also! Was jetzt?», schmettert sie dem überraschten Lemming ins Gesicht.
    «Verzeihen Sie … da ist noch …»
    Ohne das Ende seines Satzes abzuwarten, wendet ihm die Frau den Rücken zu und verschwindet durch den engen Vorraum. Der Lemming bleibt unschlüssig vor der noch offenen Eingangstür stehen.
    «Ja, kommen Sie jetzt oder was? Es zieht!»
    Grinzingers Wohnung ist düster. Der Lemming tastet sich den Flur entlang, an einer Kleiderablage und einer Kommode vorbei, bis er durch einen Türspalt das Wohnzimmer ausmachen kann. Nora Grinzinger steht mit verschränkten Armen am Fenster und starrt durch die Gardinen, deren fahles Weiß der Farbe ihrer hochgeknoteten Haare gleicht.
    Während der Lemming den Raum betritt, lässt er in alter Gewohnheit den Blick schweifen, versucht, einen Eindruck vom Leben des Toten zu gewinnen. Aber, so seltsam es ist, seine Augen gleiten an den Möbeln und Gegenständen ab wie die Hände des Ringers an der öligen Haut seines Gegners. Da ist absolut nichts, was ihn aufmerken lässt, nichts, was einer näheren Betrachtung würdig wäre. Ein ovaler Tisch mit blaugrau bezogenen Stoffsesseln, ein dunkelbrauner Einbauschrank, eine Sitzgarnitur, ein alter Fernsehapparat. Sogar die Bilder an der Wand entpuppen sich als billige Kunstdrucke, Ansichten von Wien, Venedig und Rom, dazwischen zwei Kopien russischer Ikonen und ein kleines Holzkreuz. Das Zimmer ist muffig und unmodern und zugleich in einem Maße unpersönlich, das selbst den Rahmen des Kleinbürgerlichen sprengt. Es entzieht sich jeder Charakterisierung.
    Vielleicht, überlegt der Lemming, ist es genau das, was es charakterisiert. Möglicherweise …
    Doch da unterbricht die Frau am Fenster seine Gedanken.
    «Und? Wo ist Ihr freundlicher Kollege von gestern Nacht? Sehr gütig von dem, mich nicht gleich zu verhaften oder in einen Leichensack zu stecken, drüben auf der Prosektur.»
    «Ich … äh … Sie haben also schon …»
    «Allerdings. Ich habe schon. Und ja: Der Ermordete ist mein verehrter Herr Gemahl, Doktor Friedrich Grinzinger, geboren am dreizehnten Juli 1939, wohnhaft in … sagen Sie, wie oft wollen S’ das noch hören?»
    «Verzeihen Sie. Ich war auf … Urlaub.»
    «Bravo.» Nora Grinzinger dreht sich um und schenkt ihrem Gast ein ironisches Lächeln.
    «Auf Urlaub also. Wie schön, dass Sie wieder da sind. Wollen S’ nicht Platz nehmen? Ein Stückerl Kuchen oder ein Teetscherl vielleicht?»
    «Wenn Sie … einen Schluck Kaffee hätten?»
    Ein Anflug von Verblüffung huscht über das Gesicht der Frau.
    «Sie … was? Kaffee?»
    Gedankenverloren macht sie einige Schritte in Richtung der Zimmertür, kehrt wieder um und setzt sich auf einen der Stühle.
    «Kaffee … gibt es bei uns nicht. Mein Mann …»
    Nora Grinzinger hebt den Kopf und sieht den Lemming an. Ihre Stimme klingt jetzt verbittert.
    «Mein Mann mochte keinen Kaffee. Mein Mann mochte auch keinen Tee. Mein Mann mochte keine Blumen, kein Kino, kein gutes Essen. Verstehen Sie? Mein Mann mochte auch mich nicht. Es war ihm egal, gleichgültig, unter seiner Würde.»
    «Aber … Ihr Auftrag? Ich meine … die Überwachung? Er muss doch immerhin …»
    «Ich habe das alles schon Ihrem Kollegen gesagt! Ich habe nichts verbrochen! Es war mein Mann, der mich dazu überredet hat! Und jetzt? Er stiehlt sich davon, und mir bleiben die Schwierigkeiten!»
    «Überredet? Wozu?»
    Nora Grinzingers Mundwinkel zucken. Sie ist bemüht, Haltung zu bewahren.
    «Zum letzten Mal», presst sie zwischen den Zähnen hervor, «zum allerletzten Mal. Die Sache mit der Detektei war nicht meine Idee, sondern die meines Mannes. Er hat mich dahin geschickt. Gut, bitte, das hat er jetzt davon. Absichern wollte er sich, einen Leibwächter in seiner Nähe haben, aber ohne als Feigling dazustehen … Dieser Tafelkreideheld! Er müsse einen alten Schüler treffen, hat er gesagt. Etwas klären, eine Kleinigkeit, nichts Ernstes. Er wolle die Sache nicht aufbauschen, zum Schutz des Schülers natürlich. Ha! Dass ich nicht lache! Diesem Pharisäer ging’s doch

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