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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Unterteilung in gute und böse Substanzen für einen hilflosen Reglementierungsversuch und darüber hinaus jedes Grünpflanzenverbot für engstirnig und lächerlich. Sucht ist für ihn kein chemisches, sondern ein psychisches Phänomen, sie liegt nicht in den Dingen begründet, sondern in den Menschen. Sucht ist wie ein Hohlraum, der darauf wartet, gefüllt, ein Mangel, der darauf wartet, ausgeglichen zu werden, womit auch immer. Man dürfte, denkt der Lemming, nicht nur den Gebrauch von Drogen untersagen oder das Glücksspiel beschränken. Man müsste selbstverständlich auch das Fernsehen verbieten, die Arbeit, das Joggen, das Essen und die Liebe. Ja, vor allem die Liebe …
    Der Hund tut ihm trotzdem Leid. Auch wenn Haschisch körperlich nicht abhängig macht, befindet sich Castro doch auf einer einsamen Reise durch fremde, unverständliche Welten, und er wird, in Anbetracht der Größe der Kondome und der Konzentration des Öls, so bald nicht davon zurückkehren. Vielleicht genießt er es aber auch, oder – und das ist am wahrscheinlichsten – er nimmt es eben einfach hin. Es ist, was es ist …
    Trotzdem, überlegt der Lemming, müsste ich einen Tierarzt aufsuchen. Aber wie die Sache erklären? Soll ich mich jetzt, gerade noch dem Mordverdacht entronnen, zum Tierquäler und Drogenschmuggler stempeln lassen? Er starrt in die Tasse und runzelt die Stirn. Sein Denken nimmt nun zusehends konstruktive Formen an. Wie, fragt er sich, ist Castro überhaupt an jene verlassene Stelle mitten im Wienerwald gekommen? Kann es sein, dass er aus einer der Villen unterhalb der Todeswiese ausgerissen ist? Die Erinnerung an den vergangenen Tag erwacht jetzt aufs Neue, die Gedanken des Lemming schweifen zurück zum toten Grinzinger, springen vorwärts zu Cerny und Krotznig, kreisen dann wieder um Grinzingers eigentümliches Verhalten, um seine geheimnisvolle Geliebte und um das blassblaue Päckchen mit der Nickelbrille. Viele Puzzlesteine, doch bei weitem nicht genug, um sie zu einem Bild fügen zu können. Trotz allem ist da etwas, was ihn irritiert, etwas, was offensichtlich nicht zusammenpasst, obwohl es zusammengehört.
    Der Lemming schlürft Kaffee. Er versucht, sich jene Minuten auf der Wiese bildlich vorzustellen, die ihm gestern entgangen sind, jenen Zeitraum, in dem Grinzinger allein und seinem Mörder ausgeliefert war. Grinzinger hat die Polizei gerufen – das dürfte wohl die aufgeregte Stimme gewesen sein, die der Lemming bis in den Wald hinein vernommen hat. Der Lehrer muss also gewusst haben, was ihn erwartet, er muss seinem Feind gegenübergestanden oder doch wenigstens dessen Erscheinen bemerkt haben. Wenn er genügend Zeit zum Telefonieren hatte, warum ist er dann nicht weggelaufen? Wieso hat er nicht Schutz bei jenem vorgeblichen Touristen gesucht, bei seinem ungeschickten Bewacher Lemming? Oder wollte er seinen Mörder umstimmen, ihn mit wohl gewählten Worten von seinem Vorhaben abbringen? Das wäre theoretisch möglich und ist es praktisch doch nicht, denn: Grinzinger ist von hinten erschlagen worden. Es passt nicht. Genau das ist es, was nicht passt.
    Die ominöse Freundin ist der Schlüssel, überlegt der Lemming. Sie gilt es zu finden. Vielleicht weiß Grinzingers Frau doch noch mehr über ihre Nebenbuhlerin. Handeln, Lemming, handeln. Und zwar in angemessener Kleidung, wenn ich bitten darf …
    Er holt seinen verknitterten schwarzen Mantel aus dem Schrank, steckt noch rasch das Plastiksäckchen mit der zerbrochenen Nickelbrille ein und macht sich auf den Weg. Die Suche des Lemming hat begonnen.

    Schmal und unscheinbar ist das Wohnhaus in der Döblinger Hauptstraße, das zwischen den Nachbarsbauten kauert wie ein versteinertes Chamäleon. In den Fünfzigern, als es gebaut wurde, ist es wahrscheinlich gelb gewesen, aber im Rauch und in den Abgasen der vorbeiflutenden Autos hat es längst seine Farbe gewechselt, Schicht um Schicht versiegelt mit dem schmutzigen Grau aller großen Städte. Grinzingers Wohnung liegt im dritten Stock. Zwei Schlösser, ein Spion, kein Namensschild, nur glattes Furnier, und darauf groß und rot der Hinweis: Werbung? Nein danke! Der Lemming atmet noch einmal tief durch und drückt auf die Klingel.
    Beinahe im selben Moment wird die Tür aufgerissen.
    «Was wollen Sie denn noch? Nun lassen Sie mich doch zufrieden! Ich habe alles gesagt!»
    Die Lautstärke von Nora Grinzingers Organ passt so gar nicht zu ihrem Körperbau. Eine kleine, schmächtige Gestalt steht da mit geballten

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