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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Vergnügen aufführten. In beiden Fällen galt eine Spielregel, die nicht ernst gemeint war und die man zum Scherz ernst nahm. Auch jetzt noch sind die sonntäglichen Sportveranstaltungen in einem zum Bersten gefüllten Stadion und das Theater, das ich mit einer Leidenschaft ohnegleichen liebte, die einzigen Stätten der Welt, wo ich mich unschuldig fühle.
    Wer aber würde die Berechtigung einer solchen Einstellung anerkennen, wenn es sich um die Liebe, den Tod und die Hungerlöhne handelt? Und doch, was tun? Isoldes Liebe konnte ich mir nun einmal nur in Büchern oder auf der Bühne vorstellen. Die Sterbenden schienen mir oft in ihrer Rolle aufzugehen. Die Antworten meiner bedürftigen Klienten waren meiner Meinung nach immer vom gleichen Souffleur eingeblasen. So lebte ich also unter den Menschen, ohne ihre Interessen zu teilen, und brachte es infolgedessen nicht fertig, an die Verpflichtungen zu glauben, die ich einging. Ich war höflich und auch träge genug, um den Erwartungen, die in meinem Beruf, meiner Familie oder meinem Bürgerleben in mich gesetzt wurden, zu entsprechen; aber ich tat es mit einer Art Zerstreutheit, die zu guter Letzt alles verdarb. Mein ganzes Leben habe ich unter einem Doppelzeichen gestanden, und oft war ich gerade an meinen folgenschwersten Handlungen innerlich am wenigsten beteiligt. War es im Grunde nicht gerade dies, was ich mir, um das Maß meiner Dummheiten voll zu machen, nicht verzeihen konnte, was mich dazu brachte, mich mit der größten Heftigkeit gegen das Gericht, das ich in mir und um mich her am Werk spürte, aufzubäumen, und was mich schließlich gezwungen hat, einen Ausweg zu suchen?
    Eine Zeitlang ging mein Leben dem Anschein nach weiter, als ob alles beim Alten geblieben wäre. Ich befand mich auf Schienen, und so rollte ich eben. Als wäre es Absicht, erscholl mein Lob lauter denn je. Gerade dies war die Quelle allen Übels. Sie erinnern sich: «Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet!» Ach, der das sagte, war ein weiser Mann! Weh mir! Die Maschine begann also zu bocken und aus unerklärlichen Gründen hin und wieder stillzustehen.
    In diesem Augenblick brach der Gedanke an den Tod in meinen Alltag ein. Ich schätzte die Jahre ab, die mich von meinem Ende trennten. Ich suchte nach Beispielen von Menschen meines Alters, die bereits gestorben waren. Und ich wurde vom Gedanken gepeinigt, ich könnte keine Zeit mehr haben, um meine Aufgabe zu erfüllen. Welche Aufgabe? Davon hatte ich keine Ahnung. War das, was ich tat, ehrlich gestanden überhaupt wert, weitergeführt zu werden? Aber nicht darum ging es mir eigentlich. In Tat und Wahrheit verfolgte mich eine lächerliche Angst: Man konnte nicht sterben, ohne all seine Lügen eingestanden zu haben. Nicht vor Gott oder einem seiner Stellvertreter, darüber war ich erhaben, wie Sie sich wohl denken können. Nein, es handelte sich darum, sie den Menschen zu gestehen, einem Freund zum Beispiel, oder einer geliebten Frau. Sonst, und blieb in einem Leben auch nur eine Lüge verborgen, verlieh der Tod ihr Endgültigkeit. Niemand würde je mehr diese bestimmte Wahrheit erfahren, da der Einzige, der sie kannte, ja eben der Tote war, der sein Geheimnis mit in seinen Schlaf genommen hatte. Dieser unwiderrufliche Mord einer Wahrheit ließ mich schwindeln. Heute würde er mir, nebenbei bemerkt, eher einen raffinierten Genuss verschaffen. Der Gedanke zum Beispiel, dass ich als Einziger weiß, was alle Welt zu erfahren begehrt, und dass ich zu Hause einen Gegenstand besitze, dem die Polizei dreier Länder vergeblich nachgejagt hat, ist ganz einfach köstlich. Doch lassen wir das. Damals hatte ich das Rezept noch nicht entdeckt und quälte mich.
    Natürlich nahm ich mich wieder zusammen. Was bedeutete schon die Lüge eines einzelnen Menschen in der Geschichte der Geschlechter, und was für eine Anmaßung, einen erbärmlichen Betrug, der sich im Ozean der Zeiten verlor wie das Salzkorn im Meer, in das Licht der Wahrheit rücken zu wollen! Ich sagte mir auch, dass, nach den Sterbenden zu urteilen, die ich gesehen hatte, der Tod des Leibes an sich bereits eine hinlängliche Strafe darstellte, die von allem lossprach. Man errang sein Heil, mit anderen Worten das Recht, endgültig zu verschwinden, im Todesschweiß. Es half alles nichts: Das Unbehagen wuchs, der Tod hielt getreulich Wache an meinem Bett, er war da, wenn ich am Morgen aufstand, und die Lobreden wurden mir je länger desto unerträglicher. Mir schien, die Lüge nehme damit

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