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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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immer mehr zu und wachse ins Unermessliche, sodass ich nie mehr ins Reine kommen konnte.
    Dann kam der Tag, da ich es nicht mehr aushielt. Meine erste Reaktion war von blinder Heftigkeit. Wenn ich schon ein Lügner war, wollte ich es kundtun und den Dummköpfen meine Falschheit ins Gesicht schleudern, ehe sie sie selbst entdeckten. Einmal zur Wahrheit herausgefordert, war ich bereit, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Um dem Lachen zuvorzukommen, verfiel ich also auf die Idee, mich der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben. Im Grunde handelte es sich immer noch darum, dem Urteil zu entgehen. Ich wollte die Lacher auf meine Seite bringen oder zumindest mich auf ihre Seite schlagen. Ich gedachte zum Beispiel, auf der Straße die Blinden anzurempeln, und die unvermutete, heimliche Freude, die ich dabei empfand, verriet mir, wie sehr ein Teil meiner Seele sie verabscheute; ich nahm mir vor, die Gummireifen der kleinen Invaliden-Rollstühle zu zerschneiden, unter den Gerüsten der Bauarbeiter «Dreckige Hungerleider!» zu brüllen und in der Untergrundbahn Säuglinge zu ohrfeigen. Von dem allem träumte ich und unternahm nichts dergleichen, oder wenn ich irgendetwas dieser Art vollbrachte, so habe ich es vergessen. Jedenfalls versetzte schon das bloße Wort Gerechtigkeit mich in seltsame Wutzustände. Ich war natürlich gezwungen, es in meinen Plädoyers weiterhin zu verwenden. Aber ich rächte mich, indem ich öffentlich den Geist der Menschlichkeit verfluchte; ich kündete das Erscheinen eines Manifests an, das die von den Unterdrückten über die honetten Leute ausgeübte Unterdrückung anprangern sollte. Als ich eines Tages auf einer Restaurantterrasse Hummer aß und ein Bettler mich belästigte, rief ich den Wirt, um ihn fortjagen zu lassen, und zollte der Rede dieses Rechtsvollstreckers laut Beifall, als er sagte: «Sie stören. Versetzen Sie sich doch gefälligst ein bisschen in die Lage dieser Herrschaften!» Und schließlich verkündete ich rechts und links, wie bedauerlich es doch sei, dass die Methoden eines russischen Großgrundbesitzers, dessen Konsequenz ich bewunderte, nicht mehr zur Anwendung kämen: er ließ nämlich unterschiedslos alle seine Bauern auspeitschen, die einen, weil sie ihn grüßten, und die anderen, weil sie ihn nicht grüßten, um eine Vermessenheit zu strafen, die er in beiden Fällen gleich unverschämt fand.
    Indessen erinnere ich mich an bedenklichere Ausbrüche. Ich begann eine Ode an die Polizei und eine Apologie des Fallbeils zu verfassen. Vor allem machte ich es mir zur Pflicht, mich regelmäßig in bestimmten Kaffeehäusern zu den Zusammenkünften der Zeitgenossen einzufinden, die Menschenliebe auf ihr Panier geschrieben hatten. Mein guter Ruf gewährleistete mir natürlich einen wohlwollenden Empfang. Im Verlauf des Gesprächs ließ ich dann gleichsam unabsichtlich ein unanständiges Wort fallen: «Gott sei Dank!», sagte ich, oder ganz einfach «Mein Gott …» Sie wissen, was für schüchterne Konfirmanden unsere Biertischatheisten sind. Ein Augenblick der Bestürzung folgte auf eine solche Ungeheuerlichkeit, zutiefst betroffen blickten sie einander an, dann brach der Tumult los; die einen entflohen aus dem Lokal, die anderen schnatterten voll Empörung durcheinander, und alle wanden sie sich in Krämpfen wie der ins Weihwasser geratene Teufel.
    Sicher finden Sie das kindisch. Und doch steckte vielleicht ein tieferer Grund hinter diesen Späßen. Ich wollte Verwirrung stiften und vor allem, o ja, vor allem meinen schmeichelhaften Ruf zunichtemachen, an den auch nur zu denken mich bereits in Harnisch brachte. «Ein Mann wie Sie …», sagte man mir voll Artigkeit, und ich erbleichte. Ich wollte nichts mehr wissen von ihrer Hochachtung, da sie ja nicht allgemein war, und wie hätte sie allgemein sein können, wenn ich sie nicht zu teilen vermochte? Da war es besser, alles, Urteil und Hochachtung, mit dem Mantel der Lächerlichkeit zuzudecken. Ich musste mit allen Mitteln das Gefühl freisetzen, an dem ich erstickte. Die schöne Maske, die ich überall zur Schau trug, wollte ich zerschlagen, um allen Blicken preiszugeben, was dahintersteckte. So erinnere ich mich an einen Vortrag, den ich vor jungen Referendaren halten sollte. Verärgert durch die unglaublichen Lobhudeleien des Präsidenten der Anwaltskammer, der mich vorgestellt hatte, konnte ich nicht lange an mich halten. Ich hatte mit dem Schwung und dem Tremolo begonnen, die man von mir erwartete und die auf Bestellung zu

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