Der Fall (German Edition)
Rechtsanwalt. Von diesem Gedanken zu dem Schlug, ich rufe die Gottheit nach Maßgabe meiner Unwissenheit an, war es nur ein kleiner Schritt. Meine Kunden taten diesen Schritt und verkrümelten sich. Hin und wieder plädierte ich noch, manchmal sogar gut, wenn ich vergaß, dass ich nicht mehr an meine Worte glaubte. Meine eigene Stimme riss mich mit, und ich ließ mich tragen; ohne wie früher wahrhaft zu schweben, erhob ich mich doch ein wenig über den Erdboden, gewissermaßen im Tiefflug. Außerhalb meines Berufs endlich verkehrte ich mit wenig Menschen und unterhielt mühsam eine oder zwei ausgetragene Liebschaften. Es kam sogar vor, dass ich, ohne Verlangen zu verspüren, einen Abend in reiner Freundschaft verbrachte, nur dass ich mich jetzt mit der Langeweile abgefunden hatte und kaum auf das hörte, was man mir erzählte. Ich setzte ein bisschen Fett an und durfte endlich glauben, die Krise sei überstanden. Nun musste ich nur noch alt werden.
Und doch … Im Verlauf einer Reise, die ich mit einer Freundin unternahm, ohne ihr zu sagen, dass ich damit meine Genesung feiern wollte, befand ich mich eines Tages an Bord eines Ozeandampfers, selbstverständlich auf dem obersten Deck. Plötzlich gewahrte ich in der Ferne auf der eisengrauen See einen schwarzen Punkt. Sofort wendete ich die Augen ab, und mein Herz begann heftig zu klopfen. Als ich mich zwang, wieder hinzuschauen, war der schwarze Punkt verschwunden. Ich wollte eben zu schreien beginnen, sinnlos um Hilfe rufen, als ich ihn wieder erblickte. Es handelte sich um einen Haufen Abfälle, wie sie gewöhnlich im Kielwasser der großen Schiffe schwimmen. Und doch war mir der Anblick unerträglich, ich hatte sogleich an einen Ertrunkenen denken müssen. Da merkte ich – ohne mich aufzulehnen, wie man sich mit einem Gedanken abfindet, dessen Wahrheit man seit langem erkannt hat –, dass jener Schrei, der Jahre zuvor in meinem Rücken auf der Seine ertönte, aus dem Fluss in den Ärmelkanal getrieben war und nicht aufgehört hatte, über die unermessliche Weite der Meere hinweg durch die Welt zu geistern, dass er auf mich gewartet hatte bis zum Tag, da ich ihm wieder begegnen würde. Ich wusste auch, dass er weiterhin auf Meeren und Strömen auf mich warten würde, überall dort, wo sich das bittere Wasser meiner Taufe fand. Sind wir nicht auch hier noch auf dem Wasser, auf dem flachen, einförmigen, endlosen Wasser, dessen Grenzen mit denen der Erde verfließen? Wie können wir wähnen, bald in Amsterdam zu sein? Nie werden wir aus diesem riesigen Weihwasserbecken herauskommen! Horchen Sie! Hören Sie das Kreischen der unsichtbaren Seemöwen? Wenn ihr Schrei uns gilt – wozu rufen sie uns auf?
Aber die gleichen Vögel kreischten, riefen schon auf dem Atlantik an dem Tag, da ich endgültig merkte, dass ich nicht geheilt war, dass ich immer noch festsaß und dass ich mich danach einrichten musste. Schluss mit dem glorreichen Leben, Schluss aber auch mit dem Toben und sich Aufbäumen! Ich musste mich unterwerfen und meine Schuldhaftigkeit eingestehen. Ich musste im Un-Gemach leben. Aber richtig, Sie wissen ja nicht, dass man im Mittelalter das unterste Verlies Un-Gemach nannte. Gewöhnlich wurde man auf Lebenszeit darin vergessen. Diese Zelle unterschied sich von den übrigen durch ihre ausgetüftelten Maße, denn sie war zu wenig hoch, als dass man aufrecht darin hätte stehen, aber auch zu wenig breit, als dass man sich hätte hinlegen können. Man musste sein Glück im Winkel suchen und diagonal leben. Der Schlaf war ein Fallen, das Wachen ein Kauern. In dieser so ganz einfachen Erfindung steckte Genie, mein Lieber, und ich wähle das Wort mit Bedacht. Durch den unveränderlichen Zwang, der seinen Körper steif werden ließ, erfuhr der Verurteilte jeden Tag aufs Neue, dass er schuldig war und dass die Unschuld darin besteht, fröhlich seine Glieder recken zu dürfen. Können Sie sich einen Menschen in dieser Zelle vorstellen, der an Gipfel und Sonnendecks gewohnt ist? Wie meinen Sie? Man konnte in einer solchen Zelle leben und trotzdem unschuldig sein? Unwahrscheinlich, höchst unwahrscheinlich, mein Lieber! Oder aber meine ganze Beweisführung geht in die Brüche. Die Unschuld könnte gezwungen sein, einen Buckel zu machen? Nein, ich weigere mich, diese Möglichkeit auch nur eine Sekunde lang in Betracht zu ziehen! Wir können übrigens von keinem sicher sagen, er sei unschuldig, während wir unbedenklich behaupten dürfen, dass alle schuldig sind. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher