Der Fall (German Edition)
voll zu machen, hat man ihn zensuriert! Ja, ich glaube, es war der dritte Evangelist, der als Erster seine Klage ausstrich. «Warum hast du mich verlassen?», das war ein aufrührerischer Schrei, nicht wahr? Darum her mit der Schere! Wenn Lukas nichts weggelassen hätte, wäre die Sache, nebenbei bemerkt, kaum aufgefallen, jedenfalls hätte sie nicht so viel Gewicht erlangt. So aber posaunt der Zensor aus, was er verhehlen will.
Auch die Ordnung der Welt ist doppelt!
Das ändert indessen nichts daran, dass der Zensurierte für sein Teil nicht weitermachen konnte. Und ich weiß, wovon ich spreche, mein Lieber. Es gab eine Zeit, da ich keine Minute wusste, wie ich die nächstfolgende erreichen sollte. Ja, man kann auf dieser Welt Krieg führen, Liebe äffen, seinen Nächsten martern, sich in den Zeitungen groß tun oder einfach beim Stricken wider seinen Nachbarn Übles reden; aber in gewissen Fällen ist das Weitermachen, das bloße Weitermachen etwas Übermenschliches. Und er war kein Übermensch, das dürfen Sie mir glauben. Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn, meinen Freund, der da starb mit der Frage auf den Lippen.
Das Unglück besteht darin, dass er uns allein gelassen hat, auf dass wir weitermachen, was auch geschehe, selbst wenn wir im Un-Gemach hausen; wir wissen unsererseits, was er wusste, aber wir sind unfähig, zu tun, was er getan hat, und zu sterben wie er. Natürlich hat man versucht, seinen Tod als Krücke zu gebrauchen. Im Grunde genommen war es ein Geniestreich, uns zu sagen: «Ihr seid nicht gerade ansehnlich, das ist unbestreitbar. Nun, wir wollen das nicht im Einzelnen untersuchen. Das werden wir alles in einem Aufwaschen auf dem Kreuz erledigen!» Aber jetzt klettern zu viele Leute bloß aufs Kreuz, damit man sie aus größerer Entfernung sieht, selbst wenn sie zu diesem Zweck einen, der sich schon so lange dort befindet, ein bisschen mit Füßen treten müssen. Zu viele Leute haben beschlossen, ohne Großmut auszukommen und dafür Nächstenliebe zu üben. O über das Unrecht, das Unrecht, das man ihm angetan hat und das mir das Herz zusammenschnürt!
Aber halt, jetzt fange ich schon wieder an zu plädieren! Verzeihen Sie. Sie müssen verstehen, dass ich meine Gründe habe. Schauen Sie, ein paar Straßen von hier gibt es ein Museum mit dem Namen Unser Heiland auf dem Dachboden. Zu jener Zeit hatten sie ihre Katakomben unter dem Dach. Hierzulande werden die Keller eben überschwemmt. Aber seien Sie unbesorgt, heute befindet sich ihr Heiland weder auf dem Estrich noch im Keller. Sie haben ihn in der geheimsten Kammer ihres Herzens auf einen Richterstuhl gehisst, und nun schlagen sie drein; vor allem richten sie, richten in seinem Namen. Er sagte voll Milde zur Ehebrecherin: «So verdamme ich dich auch nicht!» Das stört sie nicht, sie verdammen, sie sprechen niemand los. «Da hast du dein Teil im Namen des Herrn!» Des Herrn? So viel verlangte er gar nicht, mein Freund. Er wollte, dass man ihn liebe, nicht mehr. Gewiss gibt es Leute, die ihn lieben, sogar unter den Christen. Aber ihre Zahl ist klein. Er hatte das übrigens humorvoll vorausgesehen. Petrus – Sie wissen doch, die Memme Petrus – verleugnet ihn: «Ich kenne den Menschen nicht … Ich weiß nicht, was du sagst …» und so weiter. Er übertrieb es wirklich! Und der Herr macht ein Wortspiel: «Super hanc petram … auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde.» Weiter konnte man die Ironie nicht gut treiben, finden Sie nicht auch? Doch nein, sie frohlocken abermals! «Seht doch, er hatte es gesagt!» Er hatte es in der Tat gesagt, er kannte das Problem genau. Und dann ist er für immer gegangen und hat sie richten und verdammen lassen mit der Vergebung auf den Lippen und dem Richtspruch im Herzen.
Denn man kann fürwahr nicht behaupten, es gebe kein Mitleid mehr! Um Himmels willen nein, wir hören ja nicht auf, davon zu reden! Nur spricht man niemand mehr frei. Auf der toten Unschuld wimmelt es von Richtern, von Richtern aller Rassen, denen Christi und denen des Antichrist, die sich übrigens nicht voneinander unterscheiden, da sie sich im Un-Gemach geeint haben. Denn man darf nicht allein den Christen alle Schuld zuschieben. Die anderen sind genauso gut dabei. Wissen Sie, was aus einem der Häuser geworden ist, die Descartes in dieser Stadt bewohnte? Ein Irrenhaus! Ja, der Wahnsinn hat alle erfasst, und die Verfolgung ebenfalls. Auch wir sind natürlich gezwungen, mitzutun. Sie haben
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