Der Fall (German Edition)
brachte größeres Leid über die anderen als meine frühere unbekümmerte Gleichgültigkeit. Habe ich erwähnt, dass mein Papagei aus Verzweiflung hungers sterben wollte? Zum Glück konnte ich noch rechtzeitig dazwischentreten; ich bequemte mich dazu, ihre Hand zu halten, bis sie dem von einer Reise nach Bali zurückkehrenden Ingenieur mit angegrauten Schläfen begegnete, den das Leibblättchen ihr bereits geweissagt hatte. Kurzum, ich vermehrte die Last meiner Verfehlungen und die Zahl meiner Verirrungen, anstatt mich entrückt und, wie man so zu sagen pflegt, für alle Ewigkeit von der Leidenschaft losgesprochen zu finden. Das flößte mir ein solches Grauen vor der Liebe ein, dass ich jahrelang Melodien wie Es muss was Wunderbares sein oder Isoldes Liebestod nicht ohne Zähneknirschen hören konnte. Da versuchte ich, in gewisser Hinsicht auf die Frauen zu verzichten und im Stande der Keuschheit zu leben. Eigentlich hätte ihre Freundschaft mir genügen sollen. Aber dann musste ich auf das Spiel verzichten. Sobald das Verlangen ausgeschaltet war, langweilten mich die Frauen über alles Erwarten, und ganz offensichtlich langweilte ich sie ebenfalls. Kein Spiel, kein Theater mehr – ich lebte ohne Zweifel in der Wahrheit. Aber die Wahrheit, verehrter Freund, ist zum Sterben langweilig!
Ich verzweifelte an der Liebe und an der Keuschheit – da fiel mir endlich ein, dass ja noch die Ausschweifung übrig blieb; sie vermag die Liebe sehr gut zu ersetzen, sie bringt das Lachen zum Verstummen, lässt Schweigen eintreten und verleiht vor allem Unsterblichkeit. Wenn man einen gewissen Grad hellsichtigen Rausches erreicht hat, spät in der Nacht zwischen zwei Dirnen liegt und jeden Verlangens ledig ist, dann ist die Hoffnung keine Qual mehr, der Geist herrscht über alle Zeiten, und der Lebensschmerz ist auf immer vorbei. In gewissem Sinn hatte ich seit jeher in der Ausschweifung gelebt, da ich ja nie aufgehört hatte, nach Unsterblichkeit zu trachten. Entsprang dieses Verlangen nicht dem Urgrund meines Wesens und auch meiner großen Selbstliebe, von der ich Ihnen gesprochen habe? Ja, ich verging vor Begierde nach Unsterblichkeit. Ich liebte mich zu sehr, um nicht zu wünschen, dass der kostbare Gegenstand meiner Liebe nie verschwinden möge. Da man mit einer Spur Selbsterkenntnis im wachen Zustand keine triftigen Gründe sieht, warum einem geilen Affen Unsterblichkeit zuteil werden sollte, muss man sich wohl oder übel nach einem Ersatz dafür umtun. Weil ich nach dem ewigen Leben trachtete, schlief ich mit Huren und vertrank ganze Nächte. Am Morgen hatte ich dann natürlich den bitteren Geschmack der Sterblichkeit auf der Zunge. Doch hatte ich lange Stunden in glückseligem Schweben verbracht. Darf ich das Geständnis wagen? Ich denke immer noch voll Rührung an bestimmte Nächte zurück, da ich in einem schmierigen Tingeltangel eine Verwandlungstänzerin aufsuchte, die mir ihre Gunst gewährte und um deren Ehre willen ich mich sogar eines Abends mit einem prahlerischen Zuhälter schlug. Wie ein Pfau stand ich jede Nacht an der Theke, im roten Licht und im Staub dieser Stätte der Wonnen, log, dass sich die Balken bogen, und soff. Ich wartete auf das Morgengrauen und landete schließlich im stets zerwühlten Bett meiner Prinzessin, die sich mechanisch der Lust hingab und dann unvermittelt einschlief. Sachte schlich sich das Tageslicht ein und erhellte die Verheerung, und ich ragte reglos in einen Morgen des Ruhms.
Der Alkohol und die Frauen haben mir, wie ich zugeben muss, die einzige Erleichterung gewährt, deren ich würdig war. Ich verrate Ihnen dieses Geheimnis, verehrter Freund, damit Sie nach Belieben von dem Rezept Gebrauch machen können. Dann werden Sie merken, dass die echte Ausschweifung befreit, weil sie keinerlei Verpflichtung schafft. Man besitzt dabei nur sich selber; darum ist sie die bevorzugte Beschäftigung der wahrhaft in sich selbst Verliebten. Sie ist ein Dschungel ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, und vor allem ohne Verheißung und ohne unmittelbare Strafe. Die Orte, wo sie betrieben wird, sind von der Welt geschieden. Wenn man sie betritt, lässt man nicht nur alle Hoffnung, sondern auch alle Furcht hinter sich. Reden ist nicht unerlässlich; was man hier sucht, kann man ohne Worte bekommen und oft sogar auch ohne Geld. Ach, lassen Sie mich ganz besonders den namenlosen und vergessenen Frauen huldigen, die mir damals geholfen haben. Selbst heute noch mischt sich in die Erinnerung, die ich an
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