Der Fall (German Edition)
sie bewahre, etwas wie Ehrerbietung.
Wie dem auch sei, ich machte hemmungslos von dieser Befreiung Gebrauch. Ich war sogar in einem der sogenannten Sünde geweihten Hotel zu sehen, wo ich gleichzeitig mit einer Hure reiferen Alters und einem jungen Mädchen aus besten Kreisen zusammen lebte. Ich spielte den dienstbeflissenen Kavalier bei der einen und setzte die andere in die Lage, ein paar Aspekte der Wirklichkeit kennenzulernen. Leider war die Nutte höchst spießbürgerlich veranlagt, hat sie sich doch seither bereit erklärt, im Auftrag einer sehr fortschrittlich gesinnten, religiös orientierten Zeitung ihre Erinnerungen aufzuzeichnen. Die höhere Tochter dagegen hat geheiratet, um ihre entfesselten Triebe zu befriedigen und ein Tätigkeitsfeld für ihre bemerkenswerten Talente zu finden. Ich bin auch nicht wenig stolz darauf, zu jener Zeit in die oft verleumdete Innung der Zuhälter aufgenommen worden zu sein. Darauf will ich nicht näher eingehen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen: selbst sehr gescheite Leute tun sich bekanntlich etwas darauf zugute, wenn sie ein Glas mehr vertragen als der Nachbar. Endlich hätte ich in diesem glücklichen Lotterleben Frieden und Erlösung finden können. Aber auch hier wieder wurde ich mir selbst zum Hindernis. Diesmal lag es an meiner Leber und einer so furchtbaren Müdigkeit, dass ich sie heute noch nicht losgeworden bin. Da spielt man den Unsterblichen, und nach ein paar Wochen weiß man nicht einmal mehr, ob man sich bis zum nächsten Tag zu schleppen vermag!
Ich verzichtete also auf meine nächtlichen Heldentaten, und der einzige Gewinn dieser Erfahrung bestand darin, dass ich weniger am Leben litt. Die Müdigkeit, die an meinem Körper fraß, hatte gleichzeitig auch viele empfindliche Stellen ausgebrannt. Jeder Exzess setzt die Lebenskraft herab und somit auch das Leiden. Die Ausschweifung ist, entgegen der allgemeinen Meinung, keine Raserei, sondern nur ein langer Schlaf. Sie haben sicher auch schon die Beobachtung gemacht, dass die wahrhaft eifersüchtigen Männer nichts Eiligeres zu tun haben, als mit der Frau zu schlafen, von deren Treubruch sie doch überzeugt sind. Natürlich wollen sie sich ein weiteres Mal vergewissern, dass ihr teurer Schatz ihnen immer noch gehört. Sie wollen ihn besitzen, wie man so sagt. Aber sie haben noch einen anderen Grund: Unmittelbar darauf sind sie weniger eifersüchtig. Die körperliche Eifersucht ist sowohl eine Frucht der Phantasie als auch ein Urteil, das man über sich selber fällt. Man unterschiebt dem Nebenbuhler die garstigen Gedanken, die man selber unter den gleichen Umständen hegte. Zum Glück schwächt ein Zuviel an Lust Phantasie und Urteil gleichermaßen. Dann schläft das Leiden zugleich mit der Männlichkeit und so lange wie sie. Aus dem gleichen Grund verlieren die Halbwüchsigen mit ihrem ersten Liebesabenteuer ihre metaphysische Unruhe, und gewisse Ehen, die nichts anderes sind als eine bürokratisierte Ausschweifung, werden zum öden Leichenbegängnis der Kühnheit und der Erfindungsgabe. Ja, verehrter Freund, die bürgerliche Ehe hat unserem Land die Schlafhaube über die Ohren gezogen und wird es bald an den Rand des Grabes bringen.
Ich übertreibe? Nein, aber ich schweife ab. Ich wollte Ihnen nur zeigen, welchen Gewinn ich aus diesen in Saus und Braus verlebten Monaten zog. Ich lebte in einer Art Nebel, der das Lachen so sehr dämpfte, dass ich es schließlich überhaupt nicht mehr vernahm. Die Gleichgültigkeit, die bereits einen so großen Raum in mir einnahm, stieß auf keinen Widerstand mehr und breitete ihre Verknöcherung aus. Keine Gemütsbewegung mehr! Eine gleichmäßige Seelenverfassung, oder vielmehr überhaupt keine. Eine erkrankte Lunge heilt, indem sie austrocknet, und dann bringt sie ihrem glücklichen Besitzer allmählich den Erstickungstod. So erging es auch mir, der ich friedlich an meiner Genesung starb. Meine Praxis erhielt mich noch, obwohl meine zügellosen Reden meinem Ruf schweren Abbruch taten und mein liederlicher Lebenswandel die regelmäßige Ausübung meiner Tätigkeit in Frage stellte. Es ist indessen beachtenswert, dass man mir meine nächtlichen Ausschweifungen weniger übelnahm als meine Hetzworte. Die rein rhetorischen Anspielungen auf Gott, die ich manchmal in meine Plädoyers einflocht, erweckten das Misstrauen meiner Klienten. Zweifellos fürchteten sie, der Himmel könnte ihre Interessen ebenso gut wahrnehmen wie ein mit allen Klauseln der Gesetze vertrauter
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