Der Fall (German Edition)
feststellen können, dass ich keine Schonung walten lasse, und ich weiß, dass Sie Ihrerseits gleich denken. Da wir denn alle Richter sind, sind wir alle voreinander schuldig, jeder auf seine hässliche Menschenart ein Christus, einer um den anderen ans Kreuz geschlagen und da sterbend, mit der Frage auf den Lippen. Wir wären es wenigstens, wenn ich, Johannes Clamans, nicht den Ausweg gefunden hätte, die einzige Lösung, kurzum die Wahrheit …
Nein, ich höre schon auf, verehrter Freund, seien Sie unbesorgt! Ich verabschiede mich jetzt übrigens, wir sind bei meiner Haustür angelangt. In der Einsamkeit, und noch dazu, wenn man müde ist, hält man sich nun einmal gerne für einen Propheten. Schließlich und endlich bin ich auch wirklich einer, der sich in eine Wüste von Stein, Nebelbrodem und fauligem Wasser geflüchtet hat, ein hohler Prophet für klägliche Zeiten, ein Elias ohne Messias, von Fieber und Alkohol geschüttelt, den Rücken an diese moderige Tür gelehnt, den Zeigefinger gegen den tiefhängenden Himmel erhoben, Menschen ohne Gesetz, die kein Gericht ertragen, mit meinen Verwünschungen bedeckend. Denn sie vermögen es nicht zu ertragen, mein Lieber, das ist des Pudels Kern. Wer einem Gesetz anhängt, fürchtet das Gericht nicht, denn es stellt ihn in eine Ordnung, an die er glaubt. Die höchste aller menschlichen Martern ist indessen, ohne Gesetz gerichtet zu werden, und in ebendieser Marter leben wir. Ihrer natürlichen Hemmung beraubt, legen die vom Zufall entfesselten Richter sich ins Zeug. Da muss man doch wohl versuchen, ihnen zuvorzukommen? Und schon haben wir den großen Schlamassel. Die Zahl der Propheten und Quacksalber schwillt an, sie sputen sich, mit einem guten Gesetz oder einer untadeligen Organisation anzukommen, ehe die Erde leer ist. Ich bin zum Glück angekommen! Ich bin das Ende und der Anfang, ich verkünde das Gesetz. Kurz, ich bin Buß-Richter.
Ja, ja, morgen werde ich Ihnen sagen, worin dieser schöne Beruf besteht. Übermorgen fahren Sie weg? Wir haben also wenig Zeit. Besuchen Sie mich doch zu Hause, wenn Sie mögen; Sie müssen dreimal läuten. Sie kehren nach Paris zurück? Paris ist fern, Paris ist schön, ich habe es nicht vergessen. Ich erinnere mich an seine Dämmerstunden, ungefähr zur gleichen Jahreszeit wie jetzt. Trocken und knisternd senkt sich der Abend über die rauchblauen Dächer, dumpf grollt die Stadt, die Seine scheint aufwärts zu fließen … Dann irrte ich in den Straßen umher. Auch heute Abend irren sie umher, ich weiß es! Sie irren umher und geben vor, der müden Frau, dem freudlosen Zuhause entgegenzuhasten … Ach, mein Freund, wissen Sie, was es heißt, einsam in der großen Stadt umherzuirren? …
Es ist mir äußerst unangenehm, Sie im Bett zu empfangen. Nichts Schlimmes, ein wenig Fieber, das ich mit Wacholder behandle. Ich bin solche Anfälle gewöhnt. Es wird wohl die Malaria sein, die ich mir zugezogen habe, als ich Papst war. Nein, ich scherze nicht, oder nur halb. Ich weiß, dass Sie denken, es sei recht schwierig, in meinen Worten Wahr und Falsch zu unterscheiden. Ich muss gestehen, dass Sie nicht unrecht haben. Ich selber … Sehen Sie, ein Bekannter von mir pflegte die Menschen in drei Gruppen einzuteilen: die einen möchten lieber nichts zu verbergen haben als lügen müssen; die anderen möchten lieber lügen als nichts zu verbergen haben; und die Dritten schließlich lieben das Lügen und das Verbergen gleichermaßen. Ich überlasse es Ihnen, die Kategorie zu wählen, in die ich am besten passe.
Was tut’s übrigens? Bringen die Lügen einen nicht letzten Endes auf die Spur der Wahrheit? Und zielen meine Geschichten, die wahren so gut wie die unwahren, nicht alle auf den gleichen Effekt ab, haben sie nicht alle den gleichen Sinn? Was hat es da zu besagen, ob ich sie erlebt oder erfunden habe, wenn sie doch in beiden Fällen für das bezeichnend sind, was ich war und was ich bin? Man durchschaut den Lügner manchmal besser als einen, der die Wahrheit spricht. Die Wahrheit blendet wie grelles Licht. Wohingegen die Lüge ein milder Dämmerschein ist, der jedem Ding Relief verleiht. Nun, ob Sie es glauben oder nicht, ich wurde in einem Gefangenenlager zum Papst gewählt.
Nehmen Sie doch bitte Platz. Sie schauen sich in meinem Zimmer um … Kahl ist es allerdings, doch sauber. Ein Vermeer ohne Möbel und Kochtöpfe. Auch ohne Bücher. Ich habe seit langem aufgehört zu lesen. Früher war mein Haus voll von
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