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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Mensch zeugt vom Verbrechen aller anderen, das ist mein Glaube und meine Hoffnung.
    Ich sage Ihnen, die Religionen gehen von dem Augenblick an fehl, da sie Moral predigen und Gebote schleudern. Es ist kein Gott vonnöten, um Schuldhaftigkeit zu schaffen oder um zu strafen. Unsere von uns selbst wacker unterstützten Mitmenschen besorgen das zur Genüge. Sie sprachen vom Jüngsten Gericht. Gestatten Sie mir ein respektvolles Lachen! Ich erwarte es furchtlos: Ich habe das Schlimmste erfahren, und das ist das Gericht der Menschen. Bei ihnen gibt es keine mildernden Umstände, sogar die gute Absicht wird als Verbrechen angekreidet. Haben Sie wenigstens von der Spuckzelle gehört, die ein Volk vor kurzem erdachte, um zu beweisen, dass es das Größte sei auf der Welt? Ein gemauerter Verschlag, in dem der Gefangene steht, ohne sich rühren zu können. Die dicke Tür, die ihn in seine Zementmuschel einschließt, reicht ihm bis zum Kinn. Man sieht also bloß sein Gesicht, und jeder Wärter spuckt es im Vorübergehen ausgiebig an. Der in seine Zelle eingezwängte Gefangene kann sich das Gesicht nicht abwischen, doch ist es ihm immerhin verstattet, die Augen zu schließen. Das, mein Lieber, ist eine Erfindung der Menschen. Zu diesem kleinen Meisterwerk haben sie Gott nicht nötig gehabt.
    Was ich damit sagen will? Nun, dass die einzige Nützlichkeit Gottes darin bestünde, die Unschuld zu verbürgen; ich selbst würde die Religion eher als eine große Weißwäscherei betrachten – was sie übrigens einmal gewesen ist, doch nur kurze Zeit, genau drei Jahre lang, und damals hieß sie nicht Religion. Seither fehlt es an Seife, wir haben Rotznasen und schnäuzen uns gegenseitig.
    Alle missraten, alle bestraft – lasst uns anspucken und hopp! ins Un-Gemach! Es kommt einzig und allein darauf an, wer zuerst spuckt. Ich will Ihnen ein großes Geheimnis verraten, mein Lieber. Warten Sie nicht auf das Jüngste Gericht: Es findet alle Tage statt.
    Nein, mir fehlt nichts, ich fröstle bloß ein wenig in dieser vermaledeiten Feuchtigkeit. Da wären wir übrigens. So. Bitte nach Ihnen. Aber gehen Sie nicht gleich ins Hotel, begleiten Sie mich doch noch ein paar Schritte. Ich bin noch nicht zu Ende, ich muss weitermachen. Weitermachen – das ist das Schwierige. Wissen Sie zum Beispiel, warum man ihn gekreuzigt hat, ihn, an den Sie jetzt vielleicht denken? Nun, dafür gab es eine Menge Gründe. Es fehlt nie an Gründen, einen Menschen umzubringen. Im Gegenteil, es ist unmöglich, sein Weiterleben zu rechtfertigen. Darum findet das Verbrechen immer Anwälte und die Unschuld nur bisweilen. Aber abgesehen von all den Gründen, die man uns zweitausend Jahre lang so eingehend erläutert hat, gab es für dieses furchtbare Sterben noch einen weiteren, mächtigen Grund, und ich weiß nicht, warum man ihn so sorgfältig verbirgt. Er selber wusste, dass er nicht ganz unschuldig war, das ist der wahre Grund. Wenn er auch nicht die Last der Sünde trug, deren man ihn anklagte, so hatte er doch andere begangen, ob er auch selbst nicht wusste, welche. Wusste er es übrigens wirklich nicht? Schließlich und endlich befand er sich ja an der Quelle; er hatte bestimmt von einem gewissen Mord der unschuldigen Kinder gehört. Die Kinder Judäas, die hingemetzelt wurden, während seine Eltern ihn in Sicherheit brachten – warum waren sie gestorben, wenn nicht seinetwegen? Er hatte es nicht gewollt, gewiss, diese bluttriefenden Soldaten, diese zerstückelten Kinder flößten ihm Grauen ein. Aber ich bin überzeugt, dass er, so wie er war, sie nicht vergessen konnte. Und verriet die Traurigkeit, die man in all seinem Tun ahnt, nicht die unheilbare Schwermut dessen, der jede Nacht Rahels Stimme hörte, wie sie ihre Kleinen beweinte und jeden Trost zurückwies? Die Klage erhob sich in die Nacht, Rahel rief nach ihren seinetwegen getöteten Kindern, und er lebte!
    Als Wissender, dem nichts Menschliches fremd war – ach, wer hätte geglaubt, dass das Verbrechen nicht so sehr darin besteht, Sterben zu bringen, als darin, nicht selbst zu sterben! –, der sich Tag und Nacht seinem unschuldigen Verbrechen gegenübergestellt sah, vermochte er nicht mehr, sich aufrecht zu halten und weiterzumachen. Es war besser, ein Ende zu setzen, sich nicht zu wehren, zu sterben, um nicht mehr als Einziger leben zu müssen und um anderswohin zu gehen, dorthin, wo er vielleicht Beistand finden würde. Er hat den Beistand nicht gefunden, er hat sich darüber beklagt, und, um das Maß

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