Der Fall (German Edition)
der alliierten Landung in Algerien. An jenem Tag wurde sie von den Deutschen verhaftet; ich auch, aber ganz unfreiwillig. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Mir für mein Teil tat man nichts zuleide, und nachdem ich große Ängste durchgestanden hatte, merkte ich, dass es sich vor allem um eine Sicherheitsmaßnahme handelte. Ich wurde in der Nähe von Tripolis in einem Lager interniert, in dem man mehr unter Durst und Entbehrungen schlechthin litt als unter grausamer Behandlung. Ich will es Ihnen nicht weiter beschreiben. Wir Kinder dieser Jahrhundertmitte brauchen keine anschaulichen Schilderungen, um uns derartige Orte vorstellen zu können. Vor hundertfünfzig Jahren brachten Seen und Wälder das Gemüt zum Schwingen. Heute stimmen Lager und Gefängniszellen uns lyrisch. Ich überlasse die Ausmalung also vertrauensvoll Ihrer Phantasie. Fügen Sie nur noch ein paar Einzelheiten hinzu: die Hitze, die senkrecht herabbrennende Sonne, den Wassermangel, die Fliegen, den Sand.
Unter meinen Mitgefangenen befand sich ein junger Franzose, der an Gott glaubte. Wahrhaftig, es tönt wie ein Märchen! Vom Schlage eines Löwenherz, wenn Sie so wollen. Von Frankreich aus war er nach Spanien in den Kampf gezogen. Der katholische General hatte ihn interniert, und die Feststellung, dass in den franquistischen Lagern die Suppe sozusagen den Segen Roms empfing, war ihm tief zu Herzen gegangen. Später hatte es ihn nach Afrika verschlagen, aber weder der hohe Himmel der Wüste noch die Muße des Lagerlebens hatten diese Traurigkeit von ihm nehmen können. Indessen hatten sein Nachsinnen und auch die Sonne ihn ein wenig seinem Normalzustand entrückt. Eines Tages, da wir ungefähr unser zehn unter einem von geschmolzenem Blei triefenden Zelt uns keuchend der Fliegen zu erwehren suchten, verfiel er wieder in seiner Brandrede gegen den, den er den Römer nannte. Aus seinem von mehrtägigen Bartstoppeln bedeckten Gesicht blickten verstörte Augen, auf seinem nackten Oberkörper perlte der Schweiß, seine Finger trommelten leise auf seine hervortretenden Rippen. Er erklärte uns, es müsse ein neuer Papst her, je eher, desto besser, und zwar einer, der inmitten der Unglücklichen lebe, anstatt auf einem Thron zu beten. Den Kopf hin- und herwiegend, starrte er uns aus irren Augen an. «Ja», wiederholte er, «je eher, desto besser!» Dann wurde er auf einmal ruhig und sagte mit tonloser Stimme, wir müssten ihn unter uns wählen, einen ganzen Menschen mit all seinen Fehlern und Vorzügen aussuchen und ihm Gehorsam schwören unter der einzigen Bedingung, dass er sich verpflichte, bei sich selber und bei den anderen die Gemeinschaft unserer Leiden lebendig zu erhalten. «Welcher unter uns hat die meisten Schwächen?», fragte er. Zum Scherz hob ich den Finger und blieb der Einzige, der solches tat. «Gut, nehmen wir Johannes.» Nein, das sagte er natürlich nicht, denn damals trug ich ja einen anderen Namen. Indessen erklärte er, wenn einer sich selber bezeichne, so wie ich es getan habe, müsse er auch die größte Tugend besitzen, und er schlug vor, mich zu wählen. Die anderen stimmten ihm bei, zum Spaß wohl, doch auch mit einem Anflug von Ernst. Denn Löwenherz hatte uns in der Tat beeindruckt. Ich selber vermochte, glaube ich, auch nicht ganz frei zu lachen. Einmal fand ich, mein kleiner Prophet habe recht, und zum Zweiten hatte die Sonne, die erschöpfende Arbeit und der Kampf um das Wasser uns irgendwie unserem normalen Selbst entfremdet. Wie dem auch sei, ich übte mein Papstamt mehrere Wochen lang mit ständig wachsendem Ernst aus.
Worin es bestand? Nun, ich war so etwas wie ein Gruppenführer oder Kommissar. Auf jeden Fall nahmen die anderen, selbst die Nicht-Gläubigen, die Gewohnheit an, mir zu gehorchen. Löwenherz litt; ich verwaltete sein Leiden. Da merkte ich, dass Papstsein gar nicht so leicht ist, wie man glaubt, und erst gestern noch, nachdem ich Ihnen so verächtlich von unseren Brüdern, den Richtern, gesprochen hatte, musste ich wieder daran denken. Das wichtigste Problem im Lager war die Wasserverteilung. Andere Gruppen hatten sich gebildet, politische und konfessionelle, und eine jede begünstigte ihre Anhänger. Ich sah mich also gezwungen, meinerseits meine Kameraden zu bevorzugen, was bereits eine kleine Konzession darstellte. Sogar unter uns vermochte ich keine vollkommene Gleichheit aufrechtzuerhalten. Je nach dem Zustand meiner Gefährten oder der Arbeit, zu der sie kommandiert waren, begünstigte ich
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