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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Gent. Zweitens, weil unter den Leuten, die vor dem Agnus Dei vorbeidefilieren, keiner die Kopie vom Original zu unterscheiden vermöchte und infolgedessen niemand durch meine Schuld zu Schaden kommt. Drittens, weil ich auf diese Weise allen überlegen bin. Falsche Richter werden der Welt zur Bewunderung vorgeführt, und ich bin der Einzige, der die echten kennt. Viertens, weil ich somit Aussicht habe, ins Gefängnis zu kommen, was in gewisser Hinsicht ein reizvoller Gedanke ist. Fünftens, weil diese Richter unterwegs sind zum Lamm, es kein Lamm und keine Unschuld mehr gibt und der geschickte Räuber, der die Tafel stahl, daher ein Werkzeug der unbekannten Gerechtigkeit war, der man nicht ins Handwerk pfuschen soll. Und letztlich, weil wir dadurch mit der Ordnung der Dinge in Einklang kommen. Die Gerechtigkeit ist endgültig von der Unschuld getrennt – die eine im Wandschrank, die andere am Kreuz –, und ich habe freie Hand, um nach Gutdünken zu schalten und zu walten. Ich kann mit gutem Gewissen den schwierigen Beruf eines Buß-Richters ausüben, den ich nach zahllosen missglückten Ansätzen und Widersprüchen ergriffen habe und den Ihnen zu erläutern es jetzt, da Sie ja gleich wegfahren, höchste Zeit ist.
    Gestatten Sie, dass ich mich zuerst noch etwas aufrichte, um leichter atmen zu können. Ach, wie müde ich bin! Setzen Sie bitte meine Richter wieder hinter Schloss und Riegel. Danke. Den Beruf eines Buß-Richters übe ich auch im gegenwärtigen Augenblick aus. Eigentlich befinden meine Amtsräume sich im Mexico-City. Aber die wahre Berufung beschränkt sich nicht auf die Arbeitsstätte. Selbst im Bett, selbst wenn ich Fieber habe, amte ich. Diesen Beruf übt man übrigens nicht aus, er ist die Luft, die man atmet, Tag und Nacht. Glauben Sie ja nicht, ich habe Ihnen zum bloßen Vergnügen fünf Tage lang so ausführliche Reden gehalten. Ich habe früher genug leeres Stroh gedroschen. Jetzt verfolgen meine Worte einen Zweck. Natürlich zielen sie darauf ab, das Lachen zum Verstummen zu bringen und mich persönlich dem Urteil zu entziehen, obwohl es anscheinend keinen Ausweg gibt. Denn besteht das große Hindernis, das es uns unmöglich macht, ihm zu entgehen, nicht gerade darin, dass wir die Ersten sind, uns zu verurteilen? Darum muss man als Erstes die Verurteilung unterschiedslos auf alle ausdehnen, um sie dadurch bereits zu verwässern.
    Keine Entschuldigung, nie und für niemand, das ist der Grundsatz, von dem ich ausgehe. Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand. Bei mir wird nicht gesegnet und keine Absolution erteilt. Es wird ganz einfach die Rechnung präsentiert: Soundso viel macht es. Sie sind ein Sadist, ein Faun, ein Mythomane, ein Päderast, ein Künstler, und so weiter. Genau so. Kurz und bündig. In der Philosophie wie in der Politik bin ich somit Anhänger einer jeden Theorie, die dem Menschen die Unschuld abspricht, und einer jeden Praxis, die ihn als Schuldigen behandelt. Mein Lieber, Sie sehen in mir einen aufgeklärten Befürworter der Knechtschaft.
    Denn ohne sie gibt es keine endgültige Lösung. Das habe ich sehr bald begriffen. Früher führte ich ständig die Freiheit im Mund. Beim Frühstück strich ich sie mir aufs Butterbrot, ich lutschte den ganzen Tag an ihr herum und schenkte der Welt einen köstlich mit Freiheit erfrischten Atem. Mit diesem Schlagwort fiel ich über jeden her, der mir widersprach, ich hatte es in den Dienst meiner Wünsche und meiner Macht gestellt. Im Bett flüsterte ich es meinen schlafenden Gefährtinnen ins Ohr, und es half mir, sie abzuhängen. Ich flocht es in … Doch sachte, ich verliere vor Erregung das Maß. Es kam immerhin auch vor, dass ich einen selbstloseren Gebrauch von der Freiheit machte, sie sogar – beachten Sie meine Naivität – zwei- oder dreimal verteidigte, gewiss ohne für sie zu sterben, doch nicht ohne einige Gefahren auf mich zu nehmen. Man muss mir diese Unbesonnenheit nachsehen; ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, dass die Freiheit keine Belohnung ist und auch kein Orden, den man mit Sekt feiert. Auch kein Geschenk übrigens, keine Schachtel voll gaumenkitzelnden Naschwerks. O nein! Eine Fron ist sie im Gegenteil, ein sehr einsamer und erschöpfender Langlauf. Kein Sekt, keine Freunde, die ihr Glas erheben und einen liebevoll anblicken. Allein in einem trübseligen Saal, allein auf der Anklagebank den Richtern gegenüber, und

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