1. Eine Freiheit ohne Zwänge
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Ein kleines Quiz für heute Abend. Sie finden mich:
A.Auf der Terrasse der Bar Soleil in Belleville?
B.Place de Furstenberg, da dies der schönste Platz in Paris ist?
C.In Zimmer 15 des Hôtel Amour?
A.R.
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Ohne zu zögern antwortete ich: „In Zimmer 15 des Hôtel Amour“ und die Welt beschränkte sich, bis die Buchhandlung schloss, auf das irrsinnige Verlangen, Adrien wiederzusehen. Der Trubel der Buchhandlung kam mir wie eine Parallelwelt vor, die Kunden sah und hörte ich kaum. Die Bücher wirkten fast schon wie virtuelle Objekte, als hätten sie ihren Körper verloren. Ich erledigte alle notwendigen Aufgaben (kassieren, einpacken ...), als wäre mein Körper schon bei Adrien, im Hôtel Amour, in jenem Zimmer 15, das er in seiner Nachricht erwähnt hatte. Als wäre mein Körper nicht hier, bei dieser Kundin, die mich nach einem Text von Georges Bataille fragte oder bei dieser Gruppe junger Frauen, die nach einem Geschenk für einen Junggesellinnenabschied suchten. Ich fragte mich, ob man meine geistige Abwesenheit sehen oder sie mir anmerken konnte. Ob jene Männer und Frauen, die ich nicht kannte, erahnen konnten, wie sehr ich besessen war und mit welcher Intensität meine Sinne, ja alle meine Sinne, sich nach ihm verzehrten. Was auch geschehen mochte, um 20 Uhr würde ich die Buchhandlung schließen, mir meinen Weg durch Paris bis zum Hôtel Amour bahnen und dort Adrien Rousseau treffen.
Nur daran konnte ich noch denken. Alles andere tangierte mich nicht mehr. Etwa alle zehn Sekunden sah ich auf die Uhr und achtete darauf, die Gespräche auch mit den freundlichsten Kunden nicht in die Länge zu ziehen. Als ich die Tagesabrechnung fertigstellte, erhielt ich eine E-Mail von Fabien:
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[email protected] >
[email protected] Meine Alice,
geht es dir gut?
Ich habe hier, in der Nähe von Pearly Beach, von wo aus Simon und ich losziehen wollen, eine total schlechte Verbindung. Aber ich wollte dir, meine liebe Alice, Bescheid sagen, dass der Fotograf Dani Olivier morgen ganz früh eine Installation aufbauen wird. Es geht um eine Reportage, die dir sicher gefallen wird, nämlich um die regelmäßigen Besucher im Central Park in New York. Dani kommt direkt vom Flughafen und wird dir das alles erklären. Halt die Ohren steif, meine Liebe! Ich schicke dir viele Küsse! Ganz viele.
Fabien
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Dani Olivier. New York. Central Park ... Das erschien mir alles so konfus und weit weg. Morgen, das war nach dem Hôtel Amour, nach dieser Nacht und daher unvorstellbar für mich, da es in meinen Gedanken als einzigen Horizont die Nacht gab, die mich erwartete. Ich merkte mir, dass ich morgen früher kommen und mich bis dahin etwas über diesen Fotografen informieren musste, von dem ich bereits gehört hatte.
Es war Zeit, aufzubrechen. Ich ging mich ein wenig schminken, aber nicht zu stark. Mit Camille und der rothaarigen Frau, die Adrien begleitet hatte, konnte ich nicht mithalten. Ich wollte nicht zu derselben Kategorie von unerreichbaren Frauen gehören, die ihre Waffen der Verführung perfekt beherrschten. Ich trug Lipgloss auf, betonte meine Wangen mit etwas Rouge und hob meine Augen mit einem Hauch perlmuttschimmernden Lidschatten hervor. Ich wollte, dass er es sieht: meine Bemühungen und meinen Wunsch, ihn zu verführen, auch wenn ich weit, sehr weit, davon entfernt war, so erfahren zu sein, wie die Frauen, die er bereits kannte. Zumindest dachte ich das. Kann denn eine Frau, die von Natur aus verführerisch ist, sich dessen bewusst sein? Das sollte Adrien später sagen, viel später. Es gibt Verhaltensregen, die einige wenige Frauen unbewusst beherrschen, ohne dass sie es wissen, während sie jene Frauen beneiden, die darin offensichtlicher Expertinnen sind - das denkt auch Adrien. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Endlich war es 20 Uhr. Ich schloss mich in der Buchhandlung ein und nahm mir einen Augenblick, um vor dem Spiegel nachzudenken, der mir das Bild einer verliebten Frau zeigte, die voller Verlangen war. Ich wollte ihm gefallen. Dafür hatte ich keine Anleitung, da war ich mir sicher. Ich kannte Adriens Geschmack nicht, der sicher viel erlesener war als mein leicht enganliegendes, schwarzes Kleid und meine Sandalen im Indianer-Look. Dieses Outfit hatte ich schon öfter getragen und dafür Komplimente erhalten. Das gab mir Sicherheit. Man hatte mir gesagt, dass das Kleid meinen Po vorteilhaft betonte. Es hatte mich in