Der Fall (German Edition)
recht ausgiebig. Das bereitet mir weiter keine Schwierigkeiten, ich habe jetzt ein gutes Gedächtnis. Doch klage ich mich wohlgemerkt nicht etwa plump an, indem ich mich heftig an die Brust schlage. Ich laviere vielmehr äußerst geschickt und nehme unzählige Nuancen und auch Abschweifungen zu Hilfe, kurzum, ich stimme meine Rede auf den jeweiligen Zuhörer ab und bringe ihn dazu, noch lauter als ich in das gleiche Horn zu blasen. Ich vermenge die eigenen Belange mit dem, was die anderen betrifft. Ich stelle die gemeinsamen Züge heraus, die gemeinsamen Erfahrungen auch, die uns beschieden waren, die Schwächen, die wir teilen, den guten Ton, mit einem Wort den Mann von heute, wie er in mir und in den anderen sein Unwesen treibt. Mit diesen Zutaten fabriziere ich ein jedermann und niemand ähnliches Porträt. Eigentlich eher eine Maske, wie man sie am Karneval zu sehen bekommt, mit den zugleich naturgetreuen und stilisierten Zügen, bei deren Anblick man sich fragt: «Wo bin ich dem bloß schon begegnet?» Wenn das Bild fertig ist, so wie heute Abend, zeige ich es voll schmerzlicher Betrübnis vor: «So bin ich leider!» Die Anklagerede ist zu Ende. Im selben Augenblick wird das den Mitmenschen vorgehaltene Porträt zum Spiegel.
Mit Asche bedeckt, Haar um Haar ausraufend, das Gesicht von Fingernägeln zerkratzt, aber mit durchdringendem Blick, so stehe ich vor der ganzen Menschheit und rekapituliere meine Schmach und Schande, ohne dabei den erzielten Effekt aus den Augen zu verlieren, und sage: «Ich war der gemeinste unter den Gemeinen.» Dann gleite ich unmerklich in meiner Rede vom ich zum wir. Bin ich erst beim so sind wir angelangt, ist das Spiel gewonnen, und ich kann ihnen die Leviten lesen. Ich bin wie sie alle, gewiss, wir rudern alle auf derselben Galeere. Indessen bin ich ihnen in einem überlegen: ich weiß es, und das verleiht mir das Recht, zu sprechen. Wie vorteilhaft das ist, kann Ihnen nicht entgehen, dessen bin ich gewiss. Je ausführlicher ich mich selbst anklage, desto eindeutiger habe ich das Recht, Sie zu richten. Mehr noch: ich provoziere Sie dazu, sich selbst zu richten, was mich entsprechend entlastet. Wahrhaftig, lieber Freund, wir sind merkwürdige, jämmerliche Kreaturen, und wenn wir im Geringsten Rückschau auf unser Leben halten, ermangeln wir nicht der Gelegenheiten, uns über uns selbst zu erstaunen oder zu empören. Versuchen Sie es! Sie dürfen gewiss sein, dass ich Ihre eigene Beichte mit einem tiefen Gefühl der Brüderlichkeit anhören werde.
Lachen Sie nicht! Sie sind wirklich ein schwieriger Kunde, das habe ich auf den ersten Blick gemerkt. Aber es ist ganz unvermeidlich, dass es auch mit Ihnen so weit kommen wird. Die meisten anderen sind eher sentimental als intelligent; man hat sie im Nu aus der Fassung gebracht. Den Intelligenten muss man Zeit lassen. Man muss ihnen die Methode gründlich erklären, das genügt. Sie vergessen sie nicht und denken darüber nach. Früher oder später werden sie sich halb im Spiel, halb aus Ratlosigkeit dazu bequemen, die Katze aus dem Sack zu lassen. Was Sie betrifft, nun, Sie sind nicht nur intelligent, Sie scheinen zudem ganz gut geeicht zu sein. Dessen ungeachtet werden Sie mir zugeben, dass Sie heute weniger mit sich zufrieden sind als vor fünf Tagen, oder? Ich werde nunmehr darauf warten, dass Sie mir schreiben oder wieder zu mir kommen. Denn Sie werden wiederkommen, das weiß ich ganz sicher! Sie werden mich unverändert finden. Warum sollte ich mich auch verändern, da ich das mir gemäße Glück gefunden habe? Ich habe ja gesagt zur Duplizität, anstatt sie untröstlich zu beklagen; ich habe mich sogar häuslich darin eingerichtet und dabei das Behagen gefunden, nach dem ich mein Leben lang gesucht hatte. Wenn ich es mir gut überlege, hatte ich übrigens unrecht, Ihnen zu sagen, das Wesentliche sei, dem Urteil zu entgehen. Das einzig Wesentliche ist, sich alles erlauben zu dürfen, selbst wenn man dafür von Zeit zu Zeit mit lautem Trommeln seine eigene Nichtswürdigkeit verkünden muss. Von neuem erlaube ich mir alles, und zwar diesmal, ohne dass ein Lachen ertönt. Ich habe kein neues Leben angefangen, ich fahre fort, mich zu lieben und mich der anderen zu bedienen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Beichte meiner Fehler mir erlaubt, mich ihnen unbekümmerter wieder zu überlassen und des doppelten Genusses teilhaftig zu werden, den mir mein eigenes Wesen und der Reiz der Reue verschaffen.
Seitdem ich meine
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