Der Fall (German Edition)
Lösung gefunden habe, überlasse ich mich bedenkenlos allem, was sich bietet, den Frauen, der Hoffart, dem Überdruss, dem Groll und sogar dem Fieber, das ich eben wieder mit einem wohligen Gefühl in mir aufwallen spüre. Jetzt endlich herrsche ich, und zwar für immer. Noch einmal habe ich einen Gipfel gefunden, den zu erklimmen ich der Einzige bin und von dem aus ich alle Welt richten kann. Bisweilen, ganz selten, in einer wahrhaft schönen Nacht, höre ich ein fernes Lachen, und dann zweifle ich wieder. Aber im Nu begrabe ich alles, Geschöpfe und Schöpfung, von neuem unter dem Gewicht meiner eigenen Gebrechlichkeit, und schon bin ich wieder im Strumpf.
Ich will also im Mexico-City Ihrer Huldigung harren, gleichgültig, wie lange sie auf sich warten lässt. Nehmen Sie doch die Decke weg, ich kann kaum atmen. Sie kommen bestimmt, nicht wahr? Ich will Sie sogar in die Einzelheiten meiner Technik einweihen, denn ich habe so eine Art Zuneigung zu Ihnen gefasst. Sie werden sehen, wie ich meinen Schäflein Nächte und Nächte lang beibringe, dass sie alle infam sind. Gleich heute Abend will ich übrigens wieder damit anfangen. Ich kann es einfach nicht entbehren, genauso wenig wie jene erhebenden Augenblicke, da einer von ihnen, nicht zuletzt dank dem Alkohol, zusammenbricht und sich an die Brust schlägt. Dann wachse ich, mein Lieber, wachse ins Unermessliche, dann atme ich frei, ich stehe auf dem Gipfel des Berges, und zu meinen Füßen breitet sich die Ebene. Wie berauschend ist es doch, sich als Gottvater zu fühlen und unwiderrufliche Zeugnisse über schlechten Lebenswandel auszuteilen. Von meinen wüsten Engeln umgeben, throne ich am höchsten Punkt des holländischen Himmels und beobachte, wie die aus Nebeln und Wassern auftauchenden Scharen des Jüngsten Gerichts zu mir emporsteigen. Langsam, langsam erheben sie sich, gleich wird der Erste da sein. In seinem verstörten, von der einen Hand halbverborgenen Gesicht lese ich die Trostlosigkeit des gemeinsamen Loses und die Verzweiflung, ihm nicht entgehen zu können. Ich aber bemitleide, ohne loszusprechen, verstehe, ohne zu vergeben, und vor allen Dingen spüre ich endlich, dass man mich anbetet!
Gewiss bin ich erregt, aber wie sollte ich schön fügsam liegen bleiben? Ich muss auf Sie herabsehen können, meine Gedanken heben mich empor. In jenen Nächten, in jenen grauenden Morgen vielmehr, denn der Fall ereignet sich immer bei Anbruch des Tages, begebe ich mich ins Freie und gehe beschwingten Schrittes den Kanälen entlang. Die Schichten der Federn im aschfahlen Himmel lichten sich, die Tauben steigen ein wenig höher, ein rosiger Schimmer leckt den Rand der Dächer und verkündet einen neuen Tag meiner Schöpfung. Auf dem Damrak bimmelt in der feuchten Luft die Glocke der ersten Straßenbahn zur Tagwacht des Lebens in diesem Zipfel Europas, während in allen Ländern des Kontinents zu ebendieser Sekunde Hunderte von Millionen Menschen, ausnahmslos meine Untertanen, seufzend, mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge, das Bett verlassen, um freudlos ihrer Arbeit entgegenzugehen. Dann lasse ich meinen Geist über all die mir unbewusst hörigen Länder hinschweifen, dann schlürfe ich das absinthfarbene Licht des anbrechenden Morgens, und trunken von bösen Worten fühle ich mich endlich glücklich, ja glücklich, sage ich Ihnen, und ich verbiete Ihnen, daran zu zweifeln, dass ich glücklich bin, zum Sterben glücklich! O Sonne, o Gestade, und ihr von Passatwinden gekosten Inseln, o Jugend, verzweiflungbringende Erinnerung!
Verzeihen Sie, wenn ich mich jetzt wieder hinlege. Ich fürchte, meine Gefühle sind mit mir durchgegangen; aber meinen Sie ja nicht, ich weine! Es kommt vor, dass man nicht mehr aus noch ein weiß und an den offenkundigsten Tatsachen zweifelt, selbst wenn man die Geheimnisse eines mühelosen Lebens entdeckt hat. Natürlich ist meine Lösung nicht ganz ideal. Aber wenn man sein eigenes Leben nicht liebt und weiß, dass man ein anderes anfangen muss, bleibt einem ja keine Wahl, nicht wahr? Was tun, um ein anderer zu werden? Unmöglich. Dann müsste man schon niemand mehr sein, sich für irgendjemand selbst vergessen, wenigstens ein einziges Mal. Aber wie? Tadeln Sie mich nicht zu hart. Ich gleiche jenem alten Bettler, der eines Tages in einem Café meine Hand nicht loslassen wollte. «Ach, wissen Sie, Monsieur», sagte er, «man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, aber man verliert das Licht.» So ist es, wir haben das Licht
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