Der Fall Lerouge
hysterischer Schrei. Noël, der eine Szene erwartet hatte, sah sie fassungslos an, sah, wie ein Lächeln allmählich die Starre der Züge lockerte, wie sie auf ihn zukam, die Arme um seinen Hals legte und mit ernster Stimme sagte: »Ich liebe dich sehr. Jetzt liebe ich dich.«
Noël vergaÃ, was er hatte auf sich nehmen müssen, um diese Leidenschaft zu wecken. Er gab sich ganz dem Augenblick hin, den Sekunden höchsten Glücks. Doch dann kehrte das BewuÃtsein der Gefahr, in der er sich befand, in ihn zurück. Er löste sich aus ihrer Umarmung.
»Schnell, Juliette! Die Gefahr ist groÃ. Vor allem weià ich nicht, wer mir auf die Spur gekommen ist, von welcher Seite ich also den nächsten Schlag zu erwarten habe.«
Da erinnerte sich Juliette an den Besuch vom Nachmittag. Nun war ihr alles klar.
»Ach, wie dumm, wie gemein von mir!« rief sie verzweifelt. »Ich habe dich verraten! Nicht wahr, am Dienstag hast duâs getan.«
»Ja, am Dienstag.«
»Dann habe ich alles deinem Freund erzählt, dem alten Tabaret. Ich dachte, du hättest ihn geschickt.«
»Tabaret war bei dir?« Noëls Gesicht drückte nichts als Fassungslosigkeit aus.
»Vor ein paar Stunden erst.«
»Wir müssen fort! Es ist ein Wunder, daà er noch nicht wiedergekommen ist!«
Er wollte sie mit sich fortziehen, aber sie machte sich frei.
»Mein Geld! Mein Schmuck! Wir werden es brauchen können.«
»Laà alles liegen, ich habe Geld genug! Juliette, wir müssen fort!«
Aber Juliette hörte nichts mehr. Wahllos warf sie Ketten, Broschen und Ringe, alles, was ihr unter die Finger kam, in einen kleinen Koffer.
»Du lieferst uns ans Messer, Juliette! Komm!« Trotz seiner Angst durchzog ihn ein groÃes Glücksgefühl: Juliette war bereit, um seinetwillen alles aufzugeben!
Der kleine Koffer war gepackt; Juliette wollte sich einen Mantel überwerfen. Da klingelte es.
»Das sind sie!«
Noël wurde kalkweiÃ.
Beide standen einander gegenüber, unbeweglich wie zwei Statuen. Und die Angst hauste in ihren Augen. Wieder läutete es. Dann noch einmal.
Die Zofe kam auf den Zehen herein.
»Vor der Tür steht ein ganzer Trupp!« flüsterte sie. »Ich habe sie miteinander sprechen hören.«
Jetzt wurde heftig gegen die Tür geschlagen, und bis in den Salon hörte man eine Stimme rufen: »Polizei! Aufmachen!«
»Aus!« murmelte Noël.
»Komm, Noël. Kopf hoch!« sagte Juliette leise. »Die Hintertreppe!«
»Wenn die nicht auch bewacht ist.«
Wie zur Bestätigung dieser Befürchtung hörten sie schwere Schritte auf der Hintertreppe.
»Es muà doch einen Ausweg geben!« Man sah Juliette an, daà sie fieberhaft nachdachte.
»Ja, es gibt einen Ausweg«, sagte Noël plötzlich ganz ruhig, »und ich habe mein Wort gegeben, ihn zu gehen. Sie werden die Wohnungstür mit Gewalt öffnen. Verschlieà alle anderen Türen auch, verriegle sie, wenn es möglich ist. Dadurch gewinne ich Zeit.«
Juliette und die Zofe wollten seinem Befehl schon nachkommen, als Juliette sah, wie Noël, der am Kamin lehnte, einen Revolver zog und gegen seine Brust richtete. Verzweifelt warf sie sich gegen ihn, doch es gelang ihr nicht, ihm die Waffe zu entreiÃen. In dem kurzen Handgemenge löste sich ein SchuÃ. Die Kugel traf Noël in den Magen. Er stieà einen furchtbaren Schrei aus. Er taumelte und stützte sich am Sims, krümmte sich, spuckte Blut.
Noch immer hielt Juliette ihn umklammert und versuchte, ihm die Waffe zu entreiÃen. Dabei überschüttete sie ihn mit einem Schwall von Worten. »Das darfst du nicht tun! Nein, du sollst dich nicht töten! Du gehörst mir! Ich liebe dich doch! Sollen sie dich doch einsperren. Du kannst vielleicht fliehen! Ich helfe dir. Ich besteche die Wächter. Komm, wir werden weit weg von hier, in Amerika, glücklich leben! Dort weià keiner, wer wir sind.«
Das Schloà der Wohnungstür flog krachend auf. Die Verfolger arbeiteten schon an der Tür zum Vorzimmer.
»Sie dürfen mich nicht lebend bekommen,« sagte Noël mit letzter Anstrengung.
Er überwand seine Todesschwäche, schleuderte Juliette beiseite und richtete den Revolver gegen die Herzgrube. Noël fiel vornüber und rollte dann zur Seite. Im selben Moment hatte die Polizei auch die Tür zum Salon gesprengt. Juliette sprang den
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