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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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nachdem sie gewesen ist. Sie weisen auf den Erfahrungsmangel hin, jedoch ihre Erfahrung ist bloß ein mühseliges Mosaik, das kein Bild, eine fleißige Addition kleinster Ziffern, die selten ein Resultat ergibt, weil nur wenige Menschen fähig sind, wahrhafte Erfahrungen zu machen; es sind keine lebendigen Säfte da, der Baum trägt nur hölzerne Früchte, sie haben kein aufbewahrendes Herz. Es ist die Idee des Lebens, die den Menschen schöpferisch macht, die angeborene ewige Idee, die er von sich selber erschafft. Dann ist Jugend nur ein Intervall, und was ihr an Rückblick und summierender Vergleichung fehlt, ersetzt sie durch inneres Dasein, einfach durch leidenschaftliche Gegenwart. Gewillt, das unmöglich Scheinende zu unternehmen, schaute Etzel die Welt, in die er sich damit begab, zunächst einmal furchtlos an. Das Kosthaus der Mathilde Bobike florierte unter dem Titel einer Mittagspension für bessere Herrschaften, das heißt, es versammelten sich täglich zwischen zwölf und eins in einem öden, saalartigen Raum und zwei kleineren Nebenzimmern dreißig bis vierzig Personen von zweifelhafter Beschaffenheit, allerlei Entgleiste und Strauchelnde, mattgewordene Schwimmer auf dem großen Strom, Leute von angefaulter Eleganz und schlechtverdeckter Armut, stellenlose Kommis, reisende Virtuosen, kleine Vorstadtschauspieler und -schauspielerinnen ohne Engagement, Agenten, die vor einem gewagten oder nach einem mißlungenen Coup waren, Barmixer und Eintänzer aus den Vergnügungsstätten der Umgegend, ein paar Provinzler, die mit ihren letzten Hoffnungen in die Hauptstadt gekommen waren und nun festsaßen wie ein Wrack auf einer Sandbank, ein oder das andere politisch verdächtige Individuum, eine Ehefrau, die aus dem gemeinsamen Haushalt geflüchtet war, ein junges Mädchen, Pfarrerstochter aus dem Osten, das zum Kino wollte. Er legte es vom ersten Augenblick darauf an, niemand vor den Kopf zu stoßen und durch ein gefälliges, zutrauliches, bescheiden-gesprächiges Wesen die Sympathien zu gewinnen. Er freundete sich rasch mit seinen Tischnachbarn an und verwickelte sie zwischen Kartoffelsuppe und Gemüsepudding in Gespräche, die seine Wissenschaft von den sozialen Grenzgebieten nicht unwesentlich erweiterten. Es war gleich von einer Defraudation die Rede, die einer irgendwo begangen, auch sein Name wurde augenzwinkernd genannt, und wie man mit einer geringen Portion Geriebenheit durch alle Maschen der Gesetze schlüpfen könne. Man sprach von einem gewissen Kabarett-Erich, der im Viktoriacafé Klavier spielte und mit der jungen Frau des Besitzers nebst viertausend Mark durchgegangen war. Man sprach mit einer Mischung von Neid und Bewunderung darüber, wie Etzel bisher nur von bedeutenden Kunstleistungen, höchstens von einem sportlichen Rekord hatte sprechen hören. Hinter ihm unterhielten sie sich über die Börse, am Tisch links erklärte ein schwindsüchtig aussehender Maler, wieviel Geld heutzutage mit Bilderfälschungen verdient werde; rechts wurde aufgeregt über die Höhe der Bestechungssumme gestritten, die ein Wohnungskommissar bei einer bestimmten Gelegenheit eingesteckt hatte. Er lauschte gelehrig, voll Interesse, mit dem Lächeln eines Anfängers, der sich ein Beispiel nimmt, alles kam aufs Verbergen an, am liebsten hätte er sich auch vor sich selbst versteckt, als ob der Umgang mit der eigenen Person eine lästige Sache wäre, als ob man nichts von sich spüren und wissen dürfe unter Umständen wie den vorliegenden. Er war ja ohnehin ein Doppelter, Edgar Mohl und Etzel Andergast, und er spielte Doppeltsein, um sich bei der strengen Verrichtung, der er sich unterzogen, ein bißchen mit sich selber zu amüsieren, den einen gegen den andern zu hetzen, den einen am andern zu messen, allein immer ferner rückte E. Andergast, der doch der eigentliche Körper war, indes E. Mohl, der Schatten, an prahlerischer Leiblichkeit zunahm und auf seinen gefährlichen Wegen keine Einrede duldete.
    Er hatte schon zu öfteren Malen heimlich forschend um sich geschaut, aber keiner von allen Gästen schien ihm der zu sein, den er mit so erregter Spannung suchte. Endlich, es war schon drei Viertel eins und die Mehrzahl der Kostgänger bereits aufgebrochen, trat ein Mann herein, dessen Erscheinung keinen Zweifel in ihm beließ. Es war ein mittelgroßer Mann in einem grauen, langen, altmodischen Gehrock, grauer, sackig hängender Hose und einer blaugeblümten, etwas schäbigen Samtweste. Sein Gang war nachlässig, langsam

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