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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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können, dadurch erwischt, daß er sich an die Weißenseer Salome in der Landsberger Straße gewendet habe. Etzel zollte dem Redner für die ausgiebige Unterweisung begeisterten Dank. Um nun auch sein Licht leuchten zu lassen, entwickelte er vor dem verwunderten Auditorium, das nach dieser Glanzleistung nicht zögerte, ihn als entschieden »helle« zu bezeichnen, eine Art Popularphilosophie der sozialen Gruppierungen, indem er bewies, daß bei dem dichten Beieinander der Menschen innerhalb bestimmter Schichten und bei dem Übergang in die nächst höhere oder niedrigere Schicht jeder jeden kenne. Jeder Schneider kennt zwanzig Schneider, jeder Händler zwanzig Händler, es gibt Geschwisterberufe, Vetternberufe, der Schlosser berührt sich mit dem Fahrradhändler, der Glaser mit dem Baumeister, der Bürovorstand übersieht zwei Dutzend Angestellte, der Kellner bedient täglich zweihundert Gäste, weiß von vielen nicht bloß den Namen, sondern auch die privaten Verhältnisse, das Ladenfräulein interessiert sich für die Kunden, weiß fast von jedem, wer er ist und was er treibt, die Chauffeure kennen die Leute, die in der Nähe ihres Standplatzes wohnen, die Trambahnschaffner kennen die Morgen-, Mittags- und Abendpassagiere, die meisten Menschen gehen immer zur selben Zeit durch dieselben Straßen, es kommt gar nicht darauf an, wieviel »Bekannte« einer hat, ob der Professor , der Abgeordnete, der Fabrikant zweitausend hat und der arme Student, der Hausierer, der kleine Bankbeamte, der entlassene Zuchthäusler nur fünfzig oder zehn, deswegen ist er doch von »Bekannten« umgeben, auf jeder Staffel seines Lebens ist ein »Bekannter«, der ihn auf die nächste Staffel zu einem andern »Bekannten« führt, jeder gehört zu seiner Schicksalsgilde.
    Junge Menschen, wenn sie etwas Gescheites vorzubringen glauben, sprechen gern für die Galerie; von solcher Eitelkeit war Etzel ziemlich frei, er hatte einen andern Grund, mit erhobener Stimme zu sprechen und die Umsitzenden zu stillem Zuhören zu nötigen, er wünschte einfach, vom »Professor« gehört zu werden; und während er redete, paßte er auf jede Bewegung von Waremme-Warschauer auf wie ein Luchs. Gesicht und Miene konnte er wegen seiner Kurzsichtigkeit nur undeutlich wahrnehmen, doch war ihm, als unterbreche der Mann seine Lektüre, um zu lauschen; und am Schluß seiner Ausführungen gewahrte er, daß jener das Gesicht ein wenig zur Seite wandte, wie wenn er herüberschielen wolle (er saß halbrechts gegen Etzel), und dann den hypertrophischen Unterkiefer eigentümlich malmend hin und her schob. Es sah genau so aus, als wolle er eine Wespe abwehren, sei aber zu faul, die Hand aufzuheben. Jetzt kennt er also meine Stimme, dachte Etzel, jetzt bin ich quasi ein »Bekannter« von ihm.
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    Nicht bloß, daß ihn seine Tischfreunde um mancherlei Besorgungen baten, zum Beispiel er solle beim Nachhausegehen den Umweg über den Linienkeller machen und einem dort wartenden Herrn, der so und so aussehe, dies und das ausrichten, oder er möge dem Fräulein Else Grünau, Gollnowstraße 27, sagen, Heinrich Balle könne sie am Abend nicht abholen, oder er solle in den Sportpalast hinaus (da habe er gleich das Geld für die Untergrundbahn), sich den Rennfahrer Paul rufen lassen und ihm mitteilen, wenn er bis vier Uhr nachmittags nicht das Bewußte abliefere, kriege er's mit Christoph Jansen zu tun, und anderes mehr; auch Frau Bobike selbst betraute ihn mit gelegentlichen Botengängen: einen säumigen Zahler zu mahnen, einen Lebensmittellieferanten, dem sie ihrerseits Geld schuldete, zu vertrösten, einer jungen Dame, der sie vor zwei Jahren ein Grammophon auf Raten überlassen hatte und die momentan im Krankenhaus lag, zu bedeuten, daß das Instrument wegen Nichteinhaltung der Bedingungen, es waren noch zwei Raten fällig, zurückzugeben sei, ein Korsett zum Ausbessern mitzunehmen, eine Flasche Benzin aus der Drogerie zu besorgen, aufs Meldeamt zu gehen und eine Adresse zu erfragen, am Schönhauser Tor sich nach einem Predigtamtskandidaten Klapprot zu erkundigen und anderes mehr. Er tat es willig. Seine Heiterkeit blieb immer die gleiche. Er ging und ging, wohin man ihn auch schickte. Selten benutzte er ein Verkehrsvehikel, erstens wollte er sparen, zweitens fesselte ihn das Unterwegs. Er kam von belebten Vierteln, wo unzählige Menschen kalt, böse und eilig aneinander vorüberstießen, in die öden, wo Gasanstalten, Laubenkolonien, Gefängnisse, Spitäler, Fabrikschlote und

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