Der Fall Maurizius
Fähigkeit, die Menschen durch einen Blick, eine Miene zu überzeugen. Er machte jedermann begreiflich, daß er jedermanns Bestes im Auge habe; daher billigte man ihm zu, was er für sich selbst bescheiden beanspruchte, Wohlwollen und etwas Nettigkeit. Seine lachenden Augen wirkten auf den gemeinsten Rohling beruhigend. Seine Anmut war von einer volkstümlichen Art. Wenn er es darauf anlegte, konnte er durch die betrübte Bewegung, mit der er die Kappe in die Stirn schob, Gelächter erzeugen. Stadtreisende in Gummiartikeln und vagabundierende Artisten sind nicht Figuren, die sich gesellschaftliche Reserve auferlegen; der beschäftigungslose Zahntechniker, den man unten vor dem Krämerladen trifft, wo er nach einer Büchse mit Thunfisch schielt, während er dann für zehn Pfennig Weichkäse zum Abendbrot verlangt, ist froh, wenn man ihn anredet. Was den Leuten an ihm gefiel, war seine trockene Selbstverständlichkeit. Unterhielt er sich mit einem Kokainisten, so schien er sich zu wundern, daß nicht alle Menschen Kokain schnupften; hatte er es mit einem Säufer zu tun, so war es, als zolle er ihm Anerkennung wegen der Tatkraft, die er im Trinken bewies, und blickte freundlich drein, als sei ein solcher Zustand der natürlichste von der Welt. Eines Tages machte ihm ein geschminkter Jüngling einen zärtlichen Antrag; als er begriffen hatte, versprach er, sich die Sache zu überlegen. Wenn sein Innerstes bewegt war, konnte er aussehen wie ein Kasperle; wenn er es mit einem zornigen Menschen zu tun hatte, machte er ein Gesicht wie eine alte Kinderfrau, die einen Säugling beschwichtigen muß. Keine Entartung erstaunte, keine Niedrigkeit verletzte ihn, keinem Laster bezeigte er Abscheu, und selbst der Anblick eines Verbrechens hätte vermutlich keinen Zug in seinem friedlich lächelnden Antlitz verändert. So sehr hatte er sich in der Gewalt. Es war wie das Spiel von einem, der hinter seinem eigenen Rücken agiert, und so verdächtig ihm alle Romantik war, so verwerflich alles Traumwesen, etwas davon, Rudimente, nehme ich an, kam doch bei alledem zum Vorschein, wenn auch oft nur in Form von Widerstand; im Grunde war es eben derselbe Etzel, den seine Großmutter, die Generalin, als er drei Jahre alt war, beobachtet hatte, wie er auf dem Teppich sitzend und einen Suppenlöffel in der Hand sich bemühte, den Sonnenschein zu essen, der in einem durchleuchteten Staubband ins Zimmer fiel, und dann, als er die Lauscherin bemerkte, den Löffel wütend und beschämt in den Kohleneimer schleuderte.
Wie der durchgebrannte Onkel heiße, wurde gefragt. Mohl heiße er, gleichfalls Mohl. So? Mohl? meldete sich ein Zigarrenagent, im Matthäuskeller habe er von einem Mohl gehört. Ein anderer verwies ihn auf den sogenannten »Halbseidenen«, der im Marburger Loch als Stammgast verkehre, der sei eine wandelnde Auskunftei, es gebe in ganz Wedding keine Seele, die er nicht kenne und deren Lebenslauf er nicht wie am Schnürchen herzusagen wisse. Ein dritter Ratgeber, ein Mensch mit quittengelbem Teint und einer Narbe über dem linken Auge, der irgendwelche Beziehung zur Marine gehabt haben sollte, empfahl ihm, er solle einmal im Wintergarten, in einigen Tanzdielen und bei verschiedenen Buchmachern nachfragen, in neunzig von hundert derartigen Fällen habe auch der Besuch eines gewissen Kaffeehauses in der Nähe des Alexanderplatzes Erfolg. Ferner nannte er ihm mehrere Gasthöfe in der Oranienburger, Elsässer und Lothringer Straße, wo gewöhnlich Leute logierten und bei drohender Gefahr rasch von einem ins andere wechselten, die der Öffentlichkeit ihre »Schmalseite zu zeigen wünschten«. Man habe, lehrte er unter respektvollem Schweigen der Tafelrunde, zu unterscheiden zwischen vornehmen, halbvornehmen, kleinbürgerlichen und proletarischen Zufluchtsorten, man müsse wissen, was ein Asyl, eine Herberge, ein Keller sei. Wer unter Polizeiaufsicht stehe, wähle natürlich eine andere Unterkunft, als wer eines Verbrechens wegen verfolgt werde; jenen könne man in geringer Tiefe loten, diesen erst in größerer; einer, der nur für eine Weile verschwinden wolle, entferne sich nicht weit vom Oberwasser und sei gewöhnlich leicht stellig zu machen, auch wenn er unter falscher Flagge segle, was beim Onkel Mohl immerhin zu befürchten sei. Manchmal führe die Erkundigung bei Damen rasch zum Ziel (»frage nur bei edlen Frauen an«, zitierte er meckernd), so habe er neulich einen Burschen, in dessen Kielwasser er lange gesegelt, ohne ihn entern zu
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