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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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schwer, sich durchzubringen, sie habe insgeheim auf den teuren Verstorbenen gerechnet, man müsse sich doch verdammt rackern und komme dabei auf keinen grünen Zweig, der Mann sei fortwährend kränklich, und was sein Salär sei, lieber Gott, grad um nicht zu verhungern, es sei ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er mit siebenundfünfzig Jahren bei Hering und Kartoffeln solle existieren müssen, ein intelligenter Mann, leider zu anständig, damit sei kein Fortkommen in der heutigen Welt; Melitta liefere ja auch den Hauptteil ihres Monatsgelds an den Haushalt ab, aber was sei mit siebzig Mark viel anzufangen, ein bißchen amüsieren wolle sich doch so junges Volk auch usw. usw. Es ging wie ein Wasserfall, ununterbrochen, mit einer gleichmäßig schrillen Stimme und so, als ob von Etzel nicht bloß Mitleid und Verständnis für all das Mißgeschick erwartet würde, sondern als ob er auch sein Quantum Schuld daran habe. Unglück ist für solche Wesen ausschließlich das Ergebnis des Verschuldens, niemals des eigenen, sondern entweder der Gesamtheit, die die Gaben und Verdienste des betroffenen Ichs nicht zu schätzen und zu verwerten gewußt, oder bestimmter einzelner, die im entscheidenden Moment, aus Bosheit, Schwäche oder Unverstand, versagt haben. Sie konnte sich nicht genugtun in bitteren Rückblicken, Vergleichen mit dem Los von dem und jenem Bekannten, verächtlichen Bemerkungen über die Unfähigkeit eines Herrn Schmitz, der es gleichwohl zum Fabrikleiter gebracht, einer Frau Hennings, Tochter eines Flickschusters, so wahr ich dasitze, die einmal Kinderhemdchen genäht habe, Marienburger Straße, wo sie am schofelsten ist, und jetzt in einer Grunewaldvilla residiere und im Auto fahre. Wenn zum Beispiel der Verstorbene Grütze gehabt und vor drei Jahren die Chance ausgenützt hätte, so hätt er sein Geschäft verkaufen können, und wie stünde sie, Frau Schneevogt, jetzt da, wie? himmelschreiend, wie? Dabei schrie sie wirklich, beugte sich weit zu Etzel hinüber und blitzte ihn drohend und vorwurfsvoll an. Er nickte. Er war durchaus ihrer Meinung. Er fand, daß die Familie Schneevogt weit würdiger sei, im Auto zu fahren und im Grunewald zu wohnen als Frau Hennings, die Kinderhemdchen genäht hatte, und daß der verstorbene Buchbinder eine unverzeihliche Unterlassungssünde begangen habe. Voll ehrlichen Anteils blickte er der Frau ins Gesicht, bereit zu jeder Konzession, die sie von ihm verlangen würde, bereit zuzugeben, daß Herr Schneevogt ein kaufmännisches Genie sei, Melitta, die trotz ihrer bezaubernden Stimme von keinem Agenten und keinem Theaterdirektor lanciert wurde, eine große Sängerin und Frau Schneevogt selbst etwas nie Dagewesenes an weiblicher Tugend und Tüchtigkeit. Die Frau war erbaut von seiner Einsicht. Sie nahm ihn in Gunst. Als sie ein halbes Dutzend belegte Brote aus einem schmierigen Paket wickelte, lud sie ihn ein, mitzuhalten. Sie hatte dürre, zittrige, verarbeitete Hände. Die Hände interessierten ihn. Er sagte zu sich selbst: das müssen geizige Hände sein. Um so höher rechnete er ihr die belegten Brote an, von denen er zwei verzehrte. Er sah zu, wie die Frau aß. Sie aß mit einer genußlosen Gier. Ihre Augen standen eng beisammen und hatten einen unsteten Blick. Das Gesicht konnte niemals hübsch gewesen sein. Doch es war ausgedörrt von Sorgen, Neid und Unzufriedenheit. Unter diesen Gefühlen schlummerte eine schier unfaßlich hohe Einschätzung der eigenen Person. Wenn es mir, mir nicht gut gehn soll, wem darf es dann überhaupt gut gehn? Etzel nutzte die Essenspause aus und deutete, nicht ohne Vorsicht, seine Verlegenheit an. Er suche Quartier, der Preis spiele keine entscheidende Rolle, obwohl er nicht eben auf Rosen gebettet sei, aber er müsse sich einige Wochen verborgen halten. Häusliche Zerwürfnisse haben ihn von zu Hause fortgetrieben, er muß warten, bis alles wieder eingerenkt ist, unterdessen hat er die Stellung eines Privatsekretärs angenommen, sein Name ist Mohl, wenn es erlaubt ist, sich vorzustellen, Edgar Mohl. Warum er den Namen des Schulkameraden gewählt, gerade den des dicken Fressers, war ihm selber rätselhaft. Besonders schlau dabei, daß er sich nicht Claus genannt, es fiel ihm im Augenblick ein, daß seine Wäsche mit einem E gemarkt war. Das Ganze war eine Augenblickseingebung.
    Frau Schneevogt kniff, ihn musternd, die Augen zusammen. Da von Geschäft die Rede war, wurde sie für eine Weile zurückhaltender. Ihr Blick schätzte ihn ab:

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