Der Fall Maurizius
braunen Bartstoppeln im Gesicht, die wie Unreinlichkeit wirkten. Er war Feuer und Flamme für den »kleinen Mohl«, wie sie ihn alle nannten, und wenn Etzel eine seiner trockenen Bemerkungen machte, sich über Weltzustände verbreitete, eine seiner Possen vollführte, zum Exempel einen schlecht aufgelegten Omnibusschaffner, einen stotternden Zeitungsausrufer nachahmte, stieß Schirmer ein wieherndes Gelächter aus, schlug mit der Faust zehnmal dröhnend auf den Tisch und schaute sich, gleichsam Applaus einsammelnd, im ganzen Raum triumphierend um. Wenn solch ein Anfall vorüber war, wischte er sich mit einem riesigen blauen Taschentuch die Tränen aus den Augen. Eines Mittags, es war gerade eine Woche verflossen, seit Etzel das Kosthaus frequentierte, brachte Schirmer im Gespräch mit dem Marinefachmann etwas selbstgefällig ein lateinisches Zitat an. Etzel lachte und ergänzte es durch die zweite Zeile des betreffenden Distichons, es war ein Horazisches, was in dem Fall ganz witzig war, freilich nur für ihn und den Studenten verständlich. Schirmer bekam den habituellen Verzückungsausbruch, dann sagte er: »Mohl, mir scheint, Sie haben die Schulbank doch nicht umsonst gedrückt, schad um Ihre Talente.« – »Warum schade?« erwiderte Etzel, »wenn man sie hat, können sie einem doch nicht schaden. Ich kann noch mancherlei«, fügte er mit leidlich gut gespielter Großtuerei hinzu, »ganze Gedichte aus dem Catull kann ich zum Beispiel aufsagen. Wollen Sie mal hören?« – »Achtung, meine Herren«, rief Schirmer und wischte sich mit der Papierserviette den Mund ab, denn man war schon beim letzten Gang, »Achtung, der kleine Mohl wird ein lateinisches Gedicht deklamieren. Also los!« Etzel lächelte seltsam und fing an:
»Quid est Catulle? quid moraris emori?
sella in curuli Struma Nonius sedet,
per consulatum perierat Vatinius,
quid est, Catulle? quid moraris emori?«
Die Zuhörer machten verdutzte Gesichter, es klang ihnen wie Hindostanisch, und hätten sie auch verstehen können, daß hier Catull sich selbst aufforderte zu sterben, weil Vatinius ungestraft Meineide schwören durfte, was hätten sie sich dabei denken sollen? Aber der Knabe fuhr fort, und seine Wangen flammten, als könne er sich, im Sinne des Gedichts, vor Staunen nicht fassen:
»Risi nescio quem modo e corona
qui, cum mirifice Vatiniana
meus crimina Calvus explicasset
admirans ait haec manusque tollens:
di magni, salaputium desertum . . .
ihr Unsterblichen, was hat der Knirps für ein Maulwerk!« übersetzte er gleich die letzte Zeile, und da grinsten sie ihm alle anerkennend zu, während der alberne Schirmer nicht fertig wurde mit Bravoschreien und lärmendem Händeklatschen. Ach Gott, hätt ich nur jetzt eine Brille! dachte Etzel, und er hatte Ursache dazu: der »Professor« wandte wieder wie neulich das Gesicht zur Seite, nur ein wenig weiter noch, und wie neulich malmte sein erschreckender Unterkiefer. Allein das flüchtige Interesse, das die wunderliche Szene vielleicht in ihm erweckt hatte – für gewiß konnte man es nicht sagen –, schien nur von kurzer Dauer; ein paar Sekunden später hatte er sich wieder in sein Buch versenkt. Und wieder ein wenig später – er hatte seine Mahlzeit beendet und erhob sich vom Stuhl – stand Etzel vor ihm und redete ihn an. Er wolle gern englische Stunden bei ihm nehmen, der Herr Professor sei ihm von vielen Leuten empfohlen worden, er habe die Absicht, im nächsten Jahr auszuwandern, vorher wolle er sich eine gründliche Kenntnis der Sprache aneignen; zu welchem Preis der Herr Professor den Unterricht erteilen würde? Waremme-Warschauer richtete die schwarzen Brillengläser so langsam gegen das Gesicht des Knaben, als suche er mit einem Opernglas erst das Objekt im Blickfeld. »Eine Mark die Stunde«, sagte er mit einer geschnittenen, etwas heiseren Stimme, wieviel Stunden wöchentlich der junge Mann zu haben wünsche? Drei? Vier? Gut; Montag, Mittwoch von vier bis fünf, Sonnabend von vier bis sechs. Der Name? Mohl? M-O-H-L? Gut. Auf Wiedersehen.
Es sieht aus, dachte Etzel geknickt, als hält er sich bis jetzt nicht einen Pfifferling um mich gekümmert.
6
Warschauer bewohnte im dritten Stock desselben Hauses ein einziges Zimmer, allerdings ein so großes, daß es durch eine Schiebetür in zwei Räume geteilt worden war. Hinter der Tür, in einem fensterlosen Alkoven, befand sich das Bett. An den Wänden waren in säulenartigen Stößen zwei- bis dreihundert Bücher geschichtet, meist
Weitere Kostenlose Bücher