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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Kopfschmerz das Zimmer zu verlassen.
    Schwer zu sagen, was Herrn von Andergast bewog, sich so eingehend mit Etzels gestrigem Vormittagsabenteuer zu befassen. (Wirklich, er sprach von einem »Abenteuer«, so wenig die Bezeichnung auf die simple Schulschwänzerei und das planlose Herumirren im Regen paßte.) Ein Rechtsanwalt hatte Etzel auf der Station in Oberursel gesehen und hatte es Herrn von Andergast heute früh beiläufig erzählt, das war die platte Erklärung seiner rätselhaften Wissenschaft. Zufall, und den nützte er nun in seiner Weise aus. Ob ihn psychologische Neugier dazu trieb oder die Befürchtung, daß dies nur der Beginn einer Reihe von Eigenmächtigkeiten und Versäumnissen war, läßt sich bei seiner unendlich komplizierten Denkungsart nicht entscheiden. Selbständige Handlungen mußten so lange wie möglich unterbunden werden; aber wie und mit welchen Mitteln? Es war ja der Geist, der zu zähmen war, der gefährlichste Explosivstoff der Welt. Er erkannte allmählich, erstens, daß das kunstvolle System der Distanzierung fehlerhaft war, zweitens, daß es sich auch tückisch an ihm selber rächte, denn da nach so ausschließlicher Frequenz nur noch die Umwege gangbar waren, hätten die verrammelten direkten ein lächerliches Übermaß von Zeit gekostet. Gefangenenwärter haben ihren Berufsehrgeiz. Sie fühlen sich nicht bloß verantwortlich für den Häftling, sondern auch für das Haus, die Mauer, das Gitter, die Tür, das Schloß und die Schlüssel. Zuletzt hat der Hüter selber keine Freiheit mehr.
    Seine sonore Stimme füllte den Raum. Sie hatte unter allen Umständen etwas Zwingendes. Die Langsamkeit des Wortfalls (Schrankensprache nannte es einer seiner Feinde) wurzelte in dem Bestreben, für jeden Gedanken die prägnanteste Form zu finden. Dies machte bisweilen den Eindruck der Selbstgefälligkeit, aber er war nicht selbstgefällig, es war nur ein bis in den Blutgang dringendes Überlegenheitsbewußtsein, das sich im Verkehr mit den Menschen als trockene Pedanterie oder konsequente Sachlichkeit äußerte. Hierin war er außerordentlich deutsch, will heißen nach dem modernsten Begriff davon. Fast alle begabten Redner haben die Neigung, ihre Zuhörer als Unmündige zu betrachten; aber niemals ist das weniger berechtigt als bei einem Unmündigen. Je mehr Mühe er aufwandte, je ärgerlicher spürte er, wie seine Worte zerstäubten. Keinen Widerstand zu erfahren, war der unbesiegbarste Widerstand. Was verfocht er eigentlich? Wogegen predigte er? Verschiedenes lag in der Luft, außer dem Taunus-»Abenteuer« noch die Briefgeschichte und die Begegnung mit dem idiotischen Alten auf der Treppe. Er spürte latente Fragen, die sich nicht herantrauten; wünschte aber keineswegs, daß sie gestellt würden. Am Abend vorher hatte Etzel gewagt, die Berechtigung eines Urteiles in einem politischen Prozeß anzuzweifeln, ungewöhnliche Kühnheit, Durchbruch des herrschenden Zeremoniells. Die Kameraden hatten sich über den Fall ereifert, Etzel berichtete es; soweit er die Sache überblicken konnte, schien es, daß Schuld und Strafe in einem krassen Mißverhältnis standen, die Schuld geringfügig, die Strafe unmenschlich. Auf dieses Gespräch, das er gestern brüsk abgebrochen, griff Herr von Andergast heute zurück. Es sei vom Übel, wenn ein Rechtsfall zum Redefutter der Straße gemacht werde. Es sei verhängnisvoll, Recht und Gefühl zu verquicken, und heiße, das Unbedingte ins Joch des Ungefährs spannen. Das Recht sei eine Idee, keine Angelegenheit des Herzens; das Gesetz kein beliebig zu modelndes Übereinkommen zwischen Parteien, sondern heilig-ewige Form. Wahr und unantastbar gültig, seit es Richter gibt, die Schuldige verdammen, und Gesetzbücher, die Verbrechen nach Paragraphen ordnen. Und doch, was flammt so leugnerisch, so unglaubend aus den Augen des Knaben herüber? Ewige Form das Gesetz? Er rückt unruhig auf seinem Stuhl und beißt verlegen auf den Fingerknöchel. Er hat etwas raunen hören, daß der Staat eine rechte und eine linke Hand habe und zweierlei Maß, eins für die eine, eins für die andere, und mehrerlei Waagen und für jede Waage mehrerlei Gewichte. Wie verhielt es sich damit? Das fragte er nicht laut, das fragten seine Augen. Im übrigen hatte er ja nicht am »Recht als Idee« gezweifelt, sondern an der Gerechtigkeit eines aktuellen Spruchs, und mit seinem Herzen hatte das schon gar nichts zu schaffen, sondern lediglich mit seinem Denkvermögen und seiner Urteilsfähigkeit.

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