Der Fall Maurizius
Hier bist du mal gründlich aufgesessen, lieber Vater, aber schweigen wir darüber, sagten seine Augen.
Vielleicht versteht Herr von Andergast die stumme Sprache, die aus dem Sechzehnjährigen nur echot und den leugnerischen, unglaubenden Geist seiner Generation vermittelt, einen Geist, krank von Krankem, entfesselt von Entfesseltem. Es war Anfall aufgesammelten Zorns, der ihn zu dem taktischen Mißgriff verleitet hatte. Umsonst Beweis, Beispiel, Erklärung. Finsternis wird nicht dadurch Licht, daß man Gründe gegen sie mobilisiert. Licht kann Blinde nicht überzeugen, Verblendete nicht treffen. Das Neue, von dem sie fabeln, auf das sie pochen, wo ist es? In ihnen selbst, sagen sie. Es gibt kein Neues, es gibt kein Altes. Der Mensch, sein Weg, seine Geburt, sein Tod, alles dasselbe seit sechstausend, seit sechzigtausend Jahren, Fabelei der Zeitbeschränkten, jedes Lustrum zur Epoche zu machen; je weniger sie selber sind, je mehr erwarten sie von der Zeit: der uralte Strom treibt auch ihre Klappermühlen, und sie bilden sich ein, sie hätten seinen Lauf verändert, weil in seinen Wassern auch ihr Rad sich dreht.
Er glaubte selbst hier noch überlegen zu sein und zu »spielen«, wo er mit seinem Despotismus im Begriffe war zu scheitern. Natürlich war er darauf gefaßt, in seinem Sohn eines Tages den anders geprägten Menschen gelten lassen zu müssen; vielleicht trat die andere Prägung deshalb so früh hervor, weil er in seiner gefrorenen Skepsis so gut und schon so lange darauf vorbereitet war; Furcht erzeugt das Gefürchtete. Aber es war nicht der Despotismus des Vaters, der eine Niederlage erlitt, es war der des Beamten. Herrn von Andergast war der Dienst Berufung, der Beruf Sendung. Er war der Beauftragte eines absoluten Herrn, dessen Interessen er vertrat, in dessen Namen er wirkte und dessen asiatische Machtvollkommenheiten durch Lockerung der Regierungsformen nicht beeinträchtigt werden konnten. Der Herr, verschwand er auch als wirkliche Person vom Schauplatz, als Symbol blieb er bestehen. Und Symbol war auch der Diener, als Diener hatte er keine Geschichte, kein Vorleben, kein Privatleben. Jede menschliche Bindung war der amtlichen gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Unwandelbarkeit ist das Prinzip, das ihn trägt, seine Zeit ist alle Zeit, der religiöse Glaube an die Hierarchie, der er angehört, macht ihn zum Mönch, zum Asketen, unter Umständen zum Fanatiker. Es hieß von Herrn von Andergast, wenigstens rühmten es seine Kollegen an ihm, daß sein starker Tatsachensinn bei den schwierigsten und dunkelsten Rechtsfällen Triumphe gefeiert und ihm das autoritative Ansehen verschafft hatte, das durch keine Umwälzung, keine Neuerung in der Verwaltung erschüttert worden war. Begreiflich. Warum sollte jemand von außen erschüttert werden, der so unerschütterlich in sich selber ruht?
4
Es war halb zehn geworden. Herr von Andergast zog die goldene Deckeluhr. Etzel erhob sich. Er machte seine Verbeugung, sagte gute Nacht und wandte sich mit der gewohnten Fluchtgebärde zur Tür. Dort zögerte er. Er blickte gegen die Wand und fragte schnell und scheu: »Wer ist denn dieser Maurizius, Vater?«
Herr von Andergast blieb auf der Schwelle seines Arbeitszimmers stehen. »Wozu willst du das wissen;« fragte er zurück und maß den Sohn mit kaltem Blick.
»Nur so . . .«, erwiderte Etzel, »es ist, weil . . .« Er stockte.
Er hatte auch die Rie gefragt. Sie hatte nachgedacht und den Kopf geschüttelt. Er nahm sich in diesem Augenblick vor, noch andere Leute zu fragen, so viel Leute wie möglich, vor allem die Großmutter, bei der er, wie jeden Sonntag, übermorgen zu Mittag essen sollte. Er entsann sich, daß der Mann mit der Kapitänsmütze seinen Namen mit einer Art von Berühmtheitsbewußtsein genannt hatte, ungefähr, wie wenn einer sagen würde: ich heiße Bismarck, wennschon nicht triumphierend, sondern verbissen. Der Ton lag ihm noch im Ohr.
»Es ist keinesfalls ein Gegenstand, über den wir beide uns unterhalten können«, sagte Herr von Andergast und ragte als unzugänglicher Turm in der Wolke der Frostigkeit.
»Ich möchte ihr mal schreiben«, murmelte Etzel, als er in seiner Stube auf und ab ging. Er sah eine Wiese vor sich, darüber einen waldbedeckten Hügel, darüber die untergehende Sonne; die Erde war gebogen wie der Rücken eines Riesen. In seiner Kehle juckte es.
Er setzte sich hin und schrieb auf ein Blatt, das er aus einem der Schulhefte gerissen hatte: »Es geht vieles vor, ich
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