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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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wahrscheinlich über mein tadellos funktionierendes Gedächtnis. Es wird wenige geben, sagen Sie sich wahrscheinlich, die imstande sind, eine gesprochene Hinrichtung nach so langer Zeit Silbe für Silbe zu wiederholen. Nach so langer Zeit. Ja. Wenn mir jemand versicherte, es seien achtzehn Jahrhunderte statt achtzehn Jahre, ich würde um des Unterschieds willen kaum mit ihm streiten. Das sind verloschene Vorstellungen: Monate . . ., Jahre . . ., es spielt keine Rolle. Nun, früher, als man mir alle Bücher vorenthielt und ich, besonders in Winternächten, wo um sechs Uhr abends finster gemacht wird, bis zwei, drei, vier in der Nacht dalag und in der Vergangenheit herumgrub wie in einem eingestürzten Haus, gab ich mir Mühe, die Rede nicht zu vergessen, hätt ich doch jedes Wort niederschreiben können, als sie gehalten war, auf mein Gedächtnis könnt ich mich mehr verlassen als auf irgend etwas. Wenn ich aufgesagt hatte, was ich aus dem Shakespeare und aus Goethe auswendig wußte, dann kam die Rede. Also weiter: Wir müssen klarsehen. Der Zweck fordert von uns die stärkste Anstrengung unseres inneren Auges. Es darf über die menschliche Erscheinung des Angeklagten nicht der geringste psychologische Zweifel in uns bleiben, und ohne Anmaßung, lediglich im Gefühl meiner unabweisbaren Pflicht behaupte ich, daß ich jeden derartigen Zweifel in Ihnen zu lösen vermag, denn den Schlüssel zu dem Bezirk, der möglicherweise noch nicht vollkommen erhellt vor Ihnen liegt, habe ich von dem Wesen, der Gesinnung, dem sittlichen Werdegang des Schuldigen selbst empfangen. Treulosigkeit und Unverantwortlichkeit, das sind die Hebel seiner Handlungen. Jene stürzt ihn in den Irrgarten seiner Wollüste, und es wird wohl auch ein Garten der Qualen gewesen sein, nehme ich zur Ehre der menschlichen Natur an, diese hebt ihn aus allen Bindungen der Gesellschaft, der Familie, der gültigen Ordnung. Genuß ist die Fanfare, die ihn bezaubert und betäubt, den Genuß bezahlt er mit allem, was er erarbeitet, was er erworben hat, mit allem, was er geworden ist, mit seinem Herzen, seiner Vernunft, mit den Herzen derer, die ihn liebten, mit seinen Idealen, mit seiner Zukunft, und als er endlich zahlungsunfähig dasteht, wird er zum Mörder. Wir wollen nicht die ehrlich Ringenden in diesem Land beleidigen und entmutigen, so billig, so bereitwillig geuden nur die mit dem Hochgut des Geistes, die als Abenteurer in sein Gebiet eingebrochen sind und ihre Eitelkeiten zum Tausch setzen gegen den bewährten Schatz, den arglose Hüter ihnen preisgegeben. Jede Bestrebung zum Edlen ist ihm eine Sprosse auf der Leiter seines Ehrgeizes, unter seinen frivolen Händen wird das Heiligste zur Münze, mit der er sich falschen Anwert kauft. Die Wissenschaft ist ihm nur ein Karneval, auf dem er sich in einer vertrauenerweckenden Maske tummelt, nichts wird ihm zum Ernst, nichts zum tieferen Sinn, und als er die Ehe mit der sittlich unendlich hoch über ihm stehenden Frau schließt, zerschellt er an dem reinen Metall ihres Charakters wie ein poröser Stein. Dies ist ihm im Wege, die Scham vor ihr ist ihm im Wege, der latente Vorwurf, den sie für ihn bildet, zermürbt sein Selbstgefühl, der Anblick ihres Schmerzes, als sie erkennen muß, daß ihr Werk um ihn vergebens ist, der Kampf um seine Seele mit ihrer Niederlage endet, vergiftet sein Blut. Die bösen Schwächlinge, die mit einem glänzenden Firnis in der Welt auftreten, wollen nicht durchschaut werden, sie wollen als die geheimnisvollen, die verführerischen Komödianten genommen werden, die sie in ihren eigenen selbstverliebten Augen sind, so kam es, wie es eben kam. Es war dem unglücklichen Weib bestimmt, von ihm vernichtet zu werden, es lag in der Konstellation, physisch und sozial, und er hätte sich ihrer entledigt, auch wenn ihn seine trostlosen, materiellen Umstände nicht zu dem schauerlichen, letzten Mittel hätten greifen lassen, auch wenn ihm die wahnwitzige, die aussichtslose Leidenschaft für die Schwester nicht den Rest von Besinnung und Ehre geraubt hätte . . .« Maurizius schöpfte Atem. Seine Schläfen waren mit kleinen Schweißperlen bedeckt. »Ich zitiere doch recht?« fragte er mit einer Art süßlicher Höflichkeit und schief zur Seite gekehrtem Gesicht. »Es war eine kühne Wendung, ein meisterhafter Griff, die Antriebe dort bloßzulegen, wo sie für die Männer aus dem Volk am unzulänglichsten waren. Daß Sie ihnen einen so hohen Standpunkt anboten, schmeichelte ihnen, machte sie

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