Der Fall Maurizius
Ich hatte natürlich ein ganz bestimmtes Bild von Ihnen. Ich hatte damals Gelegenheit genug, Sie zu beobachten und meine Wahrnehmungen zu fixieren. Das neuerliche Studium der Akten hat das Bild in keinem wesentlichen Zug verändert. Nun, ich komme hierher und sehe einen Mann, der nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Maurizius von neunzehnhundertfünf und -sechs hat. Die Ursache wollen wir nicht untersuchen. Die verflossene Zeit dürfte ich als Faktor erst in Rechnung stellen, wenn ich wüßte, was sich an mir selbst verändert hat. Nehmen Sie also an, daß auch ich mit dem Staatsanwalt Andergast von damals wenig Ähnlichkeit mehr habe. Wissen möchte ich nur, ob Sie Ihr eigenes Bild in der Erinnerung bewahrt haben und wie sich das Bild in Ihnen zur Wirklichkeit verhält. Ich möchte auch wissen, wie sich etwa der fünfzehnjährige, der sechzehnjährige Leonhart Maurizius im heutigen spiegelt oder was zwischen denen zweien der fünfundzwanzigjährige für den sechzehnjährigen fühlt. Ja, das würde ich gern erfahren. Daraus ließe sich meines Erachtens manches Dienliche folgern. Es wäre eine entwicklungsgeschichtliche Aufklärung.«
Maurizius horchte auf. Warum sagt er »manches Dienliche«? fuhr es ihm zunächst durch den Kopf; wie rückhältig, wie undeutbar er sich ausdrückt. Der Mann am Fenster wurde ihm immer unheimlicher. Plötzlich schaute er mitten in ihn hinein. Er gewahrte eine Mischung von Selbstgefühl und Unsicherheit, von Autokratismus und Schwäche, von Uneinnehmbarkeit und widerwilligem, dumpfem Entgegenstreben, die ihn äußerst betroffen machte. Menschen wie er besitzen eine Sensibilität von ganz anderer Schärfe als die durch beständigen Umgang abgeschliffenen, die Atmosphäre allein vermittelt ihnen die verstecktesten Geheimnisse. Er dachte eine Weile nach. »Es gab damals einen berühmten, französischen Roman, Peints par eux-mêmes«, sagte er dann, »Waremme brachte ihn uns. Wir lasen ihn. Wir, das heißt ich und . . . aber das tut nichts zur Sache. Ich erinnere mich, es war sehr hübsch geschildert, wie sich die Figuren in Briefen kreuzweis selbst decouvrierten. Ohne es eigentlich zu wollen, alles Geschehen fügt sich dann wie gezahnte Räder, ein Laster greift in eine Tugend, Ränkesucht treibt Feigheit vorwärts. Es ist gewöhnlich so. Der beste Spiegel ist, wo einer sich selbst verrät, während er einen andern ins Netz lockt. Entschuldigen Sie mein Gerede, ich muß immer an so vieles zugleich denken. Wenn ich anfange zu sprechen, schießen nach allen Himmelsrichtungen die Gedanken auseinander wie aufgejagte Tauben. Was Sie verlangen, ist wirklich überraschend für mich. Sie haben so umwegige Hilfsmittel zur Kenntnis meiner Person doch nicht nötig. Damals zum mindesten holten Sie alles Wissenswerte über mich aus dem Leben heraus, aus den Tatsachen, das übrige war wundervolle Kombination. Mich selber konnten Sie dabei leicht entbehren, im Gegenteil, ich hätte Sie bloß gestört bei der Arbeit.« Der ätzende Sarkasmus in diesen Worten veranlaßte Herrn von Andergast zu einem hochmütigen Aufwerfen des Kopfes. Doch da Maurizius noch mit gesenkter Stirn vor ihm stand, blieb das Warnungssignal unbeachtet, und jener fuhr fort: »Es gibt ein Porträt von mir mit sechsundzwanzig Jahren, das ich Ihnen genau nachzeichnen kann und das Sie bestimmt wiedererkennen werden, denn es stammt von Ihnen selbst. Es wurde am einundzwanzigsten August neunzehnhundertsechs im Gerichtssaal . . . soll ich sagen aufgestellt? ausgestellt? Doch es waren ja Worte. Wollen Sie hören? Hören Sie: Ein Mann von hoher geistiger Spannkraft und vollendeter Bildung, mit dem denkbar geringsten Widerstand ausgeliefert den Verführungen einer Epoche der Fäulnis und des drohenden moralischen Zusammenbruchs. Achten wir auf die Zeichen, meine Herren Geschworenen. Das Individuum täusche uns nicht über das Symptom, das singuläre Verbrechen nicht über die weit gefährlichere Strömung, die es trägt und der Sie einen wirksamen Damm entgegenzusetzen haben. Selten gibt sich die Gelegenheit so günstig, in einem charakteristischen Repräsentanten das ganze Verhängnis einer Zeit, die Krankheit einer Nation, ja eines Erdteils zu treffen und durch eine entschlossene Operation, wenn auch nicht zu heilen, so doch ihre Ausbreitung vorsorglich zu verhindern . . . Bin ich genau? Ich glaube, ich bin's. Es fehlt gewissermaßen kein Komma. Aber das war nur der Rahmen. Furchtbarer das eigentliche Gesicht. Sie wundern sich
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