Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
willfährig. Bis dahin hatten sie geglaubt, diese . . . diese Leidenschaft sei das alleinige Motiv gewesen. Jetzt sahen sie etwas viel Teuflischeres, den vom Schicksal auserwählten Mörder sahen sie jetzt. Eine fertige Sache, man brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Sie kamen dann noch auf Gott zu sprechen, nicht wahr? Sie hatten das Bedürfnis, die einzelnen Teile des Scheusals noch einmal zusammenzufassen, die Desorganisation der Seele, so nannten Sie es, philosophisch nachzuweisen. Wohin steuern wir mit solcher Mannschaft an Bord, riefen Sie aus, und mit Beziehung auf einen gewissen Aberglauben der Seeleute prophezeiten Sie dem Schiff den Zorn des Himmels, wenn das faule Glied nicht ausgeschieden würde. Gott hat ihn verworfen, sagten Sie, warum sollen wir ihn schonen? Sehr gewagt, so was zu behaupten. Sie konnten doch unmöglich mit Sicherheit wissen, ob ich wirklich von Gott verworfen war. Aber unter dem Eindruck Ihrer herrlichen Rednerkunst ging es wie bei den Kindern in der Schule, wenn eines unter ihnen gezüchtigt wird, sie machen so brave und folgsame Gesichter, als ob sie lauter makellose Engel wären. Förmlich erleichtert sind sie von dem Strafgericht.«
    Maurizius ließ sich wieder auf dem Eisenbett nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf derart in die Hände, daß Stirn und Augen verdeckt waren. So verkrochen und verbogen blieb er sitzen. Herr von Andergast, gegen das Fensterkreuz gelehnt, die Arme verschränkt, betrachtete ihn mit karger Neugier, hinter der sich ein furchtähnliches Gefühl verbarg. Die fast wortgetreue Wiedergabe einer vor einem halben Menschenalter gehaltenen Rede flößte ihm Erstaunen ein, doch das Seltsame dabei war, daß nichts an der Rede ihm, dem Autor, vertraut oder nur bekannt vorkam, obwohl er mit ziemlicher Sicherheit beurteilen konnte, daß Maurizius sie nicht verzerrt und entstellt hatte, sondern daß sie ihn wie etwas Fremdes, etwas unsympathisch, ja widerwärtig Fremdes berührte, übertrieben, voll phrasenhafter Rhetorik und spielerisch in den Antithesen. Während er auf den zusammengebückten Sträfling niederschaute, wuchs die Abneigung gegen die eigene, eben aus anderm Mund vernommene Suada bis zu körperlichem Ekel, so daß er schließlich sogar mit einem Brechreiz zu kämpfen hatte und die Zähne konvulsivisch aufeinanderbiß. Es war, als kröchen die Worte wie Würmer an der Mauer entlang, schleimig, farblos, lemurisch häßlich. Wenn alle Leistung so vergänglich und im Vergänglichen so fragwürdig war, wie sollte man da bestehn? Wenn eine Wahrheit, für die man einstmals vor Gott und Menschen eingestanden, nach irgendwelcher Zeit zur Fratze werden konnte, wie sah es dann überhaupt mit der »Wahrheit« aus? Oder war nur in ihm selbst etwas morsch, das Gefüge seines Ich geborsten? Wie bedrohlich, wie verdächtig, wie zweideutig dann dies Hiersein, das ganze Gespräch. Es war wie ein hinterlistiger Versuch, sich selber in den Rücken zu fallen. Er zog die Uhr, ließ den Deckel springen: fünf Minuten nach vier. Doch der Gedanke, seinen Hut zu nehmen, sich mit beamtenhafter Würde zu verabschieden und unverrichteterdinge nach Hause zurückzukehren, erschien ihm vollkommen unsinnig.
    Er stand da, mit verschränkten Armen, und wartete.
    7

    »Sie haben ganz recht«, sagte Maurizius endlich, unter seinen aufgestellten Armen hervor, von denen die Ärmel der Drillichjacke herabgeglitten waren, »es war ein feiner Einfall von Ihnen, mich daran zu erinnern, daß ich auch einmal sechzehn Jahre alt war. Daran hab ich schon lange nicht mehr gedacht. Auch damit haben Sie zweifellos recht, daß man das Produkt seiner Generation ist, das wird mir erst klar, wenn ich mir einen Leonhart Maurizius vorstelle, wie er mit sechzehn beschaffen war. Alles, wodurch man sich von ihm zu unterscheiden glaubt, ist so gering, wie ein Baumblatt-Individuum vom andern unterschieden ist. Jede Generation ist eine Gattung für sich, gehört einem andern Baum an. Ich möchte wissen, wie die Sechzehnjährigen von heute sind. Kennen Sie welche? Nun, Sie werden mir wohl kaum was darüber mitteilen wollen. Es ist ein tragisches Alter. Die große Wasserscheide des Lebens. Da hängt oft von einem einzigen Erlebnis die ganze Zukunft ab. Es vergehen Jahre, man hat es vergessen, plötzlich taucht es auf, und man sieht, daß man dadurch in eine bestimmte Bahn gelenkt worden ist. In der Sekunda des Gymnasiums beredeten mich mal ein paar Kameraden, mit ihnen ins Bordell zu gehen. Ich

Weitere Kostenlose Bücher