Der Fall Maurizius
war bis dahin unberührt gewesen, wußte kaum, was ein Weib ist, während die andern bereits ihre Erfahrungen hatten, manche sprachen von der Liebe und von Frauen wie abgetakelte Lebemänner. Ich ging mit, weil ich mich genierte, meine Unschuld zu gestehen, infolgedessen tat ich besonders frech und unternehmend. In dem Haus führte mich ein Mädchen auf ihre Kammer, ich folgte ihr wie ein Opferlamm; als wir allein waren, fiel ich vor ihr auf die Knie und bat sie, mir nichts zuleide zu tun; erst lachte sie sich halbtot, dann schien sie sich zu erbarmen, zog mich auf ihren Schoß, war sehr zärtlich und fing an zu weinen. Das schnitt mir ins Herz, ich fragte sie, wie sie in das Haus gekommen sei; sie erzählte mir ihre Geschichte, einen von den sentimentalen Romanen, wie sie fast alle Prostituierten allen Neulingen und gelegentlich auch andern vertrauensseligen Kunden auftischen und die offenbar dutzendweise erfunden und verbreitet werden, weil sich die Wirkung so oft bewährt. Ich glaubte natürlich jedes Wort, war heiß vor Mitleid und Empörung, und sie redete sich in ihre Dichtung so hinein, daß sie förmlich in Rührung zerschmolz. Nicht bloß gab ich ihr alles Geld, das ich bei mir hatte, ich schwor auch, sie aus diesem Jammer zu befreien und ihr eine menschenwürdige Existenz zu verschaffen. Es gelang mir, von meinem Vater eine größere Summe zu erhalten, hundertzwanzig oder hundertdreißig Mark, wenn ich mich recht erinnere, damit kaufte ich das Mädchen los, mietete ein Zimmer in der Vorstadt und brachte sie hin. Ich besuchte sie jeden Tag, jede freie Stunde widmete ich ihr, mein ganzes Taschengeld stellte ich ihr zur Verfügung, wählte passende Bücher für sie aus, meist hoch-literarische, las ihr vor, unterhielt mich mit ihr über das, was sie selber gelesen hatte, und bildete mir in meiner Torheit ein, ich könne sie erziehen, veredeln, der menschlichen Gesellschaft geläutert zurückgeben. Sie war übrigens ein nettes Ding, ziemlich hübsch, sehr jung noch und sicher nicht schlecht. Es herrschte keinerlei sinnliche Beziehung zwischen uns, ich war darin so streng, daß ich es vermied, ihre Hand zu berühren, nicht etwa weil sie mir gleichgültig war, o nein, ich war sicher, sie zu lieben, und ich wollte sie überzeugen, daß es eine ›reine Liebe‹ war. Immer wieder sprach ich ihr von der ›reinen Liebe‹, sie hörte mir geduldig zu, ich dachte, es sei eine Offenbarung für sie, indessen, das braucht ja kaum erwähnt zu werden, machte sie sich über den dummen Buben lustig und langweilte sich zum Sterben. Ich sehe noch jetzt die finstere Souterrainstube, vor den Fenstern erblickte man die Beine der Vorübergehenden, nebenan war eine Schreinerwerkstatt, und man hörte das Kreischen des Hobels. Sie saß im Sofawinkel und schaute mich mit leerem Staunen an, dessen Sinn ich nicht begriff, oder sie lächelte schlau, und ich wußte das Lächeln nicht zu deuten, ich war von nichts erfüllt als von meiner schwärmerischen Illusion. Na, um zu Ende zu kommen, eines Tages erfuhr ich, daß sie ihr altes Gewerbe ganz unbekümmert weiterbetrieb und, während ich an meinen Seelenrettungsträumen spann, Nacht für Nacht Männerbesuche empfing. Es dauerte lange, bis ich mich von dem Schlag erholt hatte. In Wahrheit erholt man sich von so was vielleicht nie. Schön, das war der Sechzehnjährige. Der Romantiker Maurizius. Noch nicht der Satan, den Sie zehn Jahre später gemalt haben. Romantiker pur sang, ohne Bruch. Ernsthaft und schmerzlich. Doch es ist das: Über meine Jugend war ein Theaterhimmel ausgespannt. Die um achtzehnhundertachtzig Geborenen waren als junge Menschen in einer üblen Lage. Vom Haus und von der Schule bekam man alles mit, was man für das bürgerliche und für das sogenannte höhere Leben brauchte, die Grundsätze und die Ideale, die Monatsrente, wer die nicht hatte, zählte erst gar nicht mit, und die Bildung. Aber es war alles löcherig und fadenscheinig, nur die Rente, die war was Festes, das übrige war Talmi und billige Imitation, von den Weihnachts- und Hochzeitsgeschenken bis zur Begeisterung für Antike und Renaissance, vom studentischen Komment und den patriotischen Feiern bis zu ›Thron und Altar‹. Ich spürte das nicht so, ich war kein Rebell, ich hatte zuviel Freude am Leben, ich gab mir übers Allgemeine keine Rechenschaft, aber auf irgendeine Weise spürt man's doch, da man ja ein zugehöriger Teil ist, nur war in jenen Jahren alles selbstisch vereinzelt, und wer nicht
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