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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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keine wirksamen Eigenschaften, die zu untersuchen sich lohnte. Alles was auf andere Defekte zurückgeführt wird, sind nur Folgeerscheinungen jenes allmächtigen Paares. Er hat keine Gelegenheit, seine Ansichten zu verkünden, und wenn sie sich ihm böte, würde er sie meiden wie die Pest. Warum sollte er sich mitteilen? Man könnte ihm ebensogut zumuten, auf dem Potsdamer Platz Purzelbäume zu schlagen. Käme ihn auch das Bedürfnis an, sich gesprächsweise zu äußern, er wüßte keinen Zuhörer, denn er ist so einsam, daß im Vergleich dazu der Sträfling 357 in Kressa eine gesellschaftliche Existenz führt. Schließlich kann sich der mit seinen Wärtern unterhalten und an seine Genossen anschließen, diese Einsamkeit aber ist freiwillig und gewünscht. Immerhin eine auffällige Ähnlichwerdung der Schicksale, die einen Geist von kleinerem Zuschnitt zu Grübeleien über okkulte Zusammenhänge veranlassen könnte. Er ist weit davon entfernt. Es hat ihn seit vielen Jahren nicht mehr verlockt, sich umzuschauen und seine Wege nach rückwärts zu verfolgen. Nicht als ob er die Vergangenheit aus dem Gedächtnis verloren hätte. Wie wäre das möglich, er trägt sie ja, doch eben darum ist es überflüssig, sich mit ihr zu beschäftigen: Sie ist für ihn nicht wie für die meisten Menschen die verwitterte Inschrift auf einem Grabstein, sondern der Blutbach in seinen Adern, der in den Meerbusen des Todes hinüberrauscht.
    Was er an dem Knaben »leiden mag«, läßt er nicht in den Bereich der Überlegung. Die Jugend allein ist es nicht, er braucht sie nicht, sucht sie nicht, schätzt sie nicht. Er betrachtet sie als einen Zustand unerquicklicher Kämpfe und anmaßender Träume. Es rührt wohl zum Teil daher, daß er die Erinnerung an die eigene Jugend in sich erstickt hat, er haßt sich, wenn er sich in ihr denkt. Ja, sehr jung ist er, der »junge Mohl«, aber in seiner Sechzehn- oder Siebzehnjährigkeit liegt etwas anziehend Selbstverständliches, keine hysterische Besoffenheit, kein Pubertätsqualm, keine schleimige Schneckenhaus-Romantik. Ist das der neue Geist? Kommen solche jetzt? Heitere, flinke, kühle Burschen, die überall gleich merken, wo ein Nagel von der Wand gefallen ist und eine Konservenbüchse aus dem Vorrat fehlt? Schwerlich. Das entwickelte Exemplar meldet höchstens einen Typus an, der schon wieder verwaschen ist. Aber da ist ein Reiz, ein bestimmter Reiz, wirksam wie feines Gift, verführerisch wie edles Parfüm. Sympathie? Nein, damit hat es wenig zu tun. Eher damit, daß man es haben möchte. Aber wie: haben? was: haben? Es ist bisweilen eine Hautannehmlichkeit, wie ein Pelz auf dem nackten Leib. Eine Wärme und ein Kitzel. Es begreift das »Putzige und Ridiküle« in sich. Aber das genügt nicht. Wenn man es sorgfältig analysiert, ruft es ein Gefühl von Zärtlichkeit und Haß hervor, von mittelpunktloser Eifersucht, von dem Verlangen, einen Abgrund zu überbrücken, in dessen Tiefe eine zerschmetterte Welt vorliegt. Da er ihm versprochen hat, er solle bei ihm was lernen, wird er versuchen, diese Welt zu heben, nicht um ein Vineta aufzuzeigen, was ein Märchengebilde wäre, ganz im Gegenteil. Der Jüngling ist wie ein Sohn, den man zu zeugen versäumt hat, entstanden durch eine Art Protoplasma-Wunder, um in einer grausigen Öde lichtvoll zu erscheinen. Man muß sich seiner bemächtigen, auf welche Weise, läßt sich nicht vorherbestimmen. Die Wißbegier, die das Wesen des Knaben durchflammt, auf ein Ziel gerichtet, das er, Warschauer, allerdings lieber nicht aufs Korn nehmen möchte, gibt vielleicht die Mittel in die Hand. Er entdeckt, daß es etwas Hinreißendes ist um ein Paar Augen, die einen wirklich anschauen. Abstruser Einfall, das mit dem ungezeugten Sohn. Wahrhaftig, der Gedanke eines Verrückten oder eines Teufels, im Hinblick darauf, daß die bloße physische Nähe des Knaben ihm manchmal eine ähnlich zwitterhafte Empfindung verursacht wie die Berührung eines Pfirsichs, der in der Sonne gelegen hat.
    3

    Wißbegier . . . Schwache Bezeichnung. Man brauchte kein Seelenerrater zu sein, um zu verstehen, daß es mehr war, mehr als zugeflossenes Interesse, mehr als Anhänglichkeit an eine nennbare Person. Nun, man muß abwarten, beschloß er und ließ sich zunächst auf nichts ein. An jenem Abend hatte er Etzel einfach fortgeschickt, und dieser war danach ziemlich verschüchtert oder stellte sich wenigstens so. Es vergingen Tage, ehe er sich wieder zu einer Andeutung vorwagte. Inzwischen

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