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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Bobike, Sprachstunden, Famulusdienste und dann das: Es war putzig und ridikül. Immer, wenn er einen flüchtigen Gedanken daran verschwendete, bezeichnete er es bei sich mit einem Grinsen als putzig und ridikül. Denn der Junge selbst, seine Haltung, seine Art zu reden, seine guten Manieren, die zu verleugnen ihm trotz gelegentlichen Anlaufs zu Derbheit und Saloppheit nicht gelingen wollte, diese und jene Anzeichen von guten, häuslichen Umständen, die Beschaffenheit der Strümpfe, der Wäsche, Schnitt der Kleider, nein, es war zu lächerlich, zu unverschämt, fand Warschauer, ohne sich mehr zu ärgern als über das Kratzen einer Maus. Einige Tage später geschah es, daß er den Knaben zu sich herzog, zwischen seine Knie preßte und ihm dringlich und aufmerksam ins Gesicht schaute. Sodann nahm er jede von Etzels Händen einzeln und schaute auch diese an, die Finger, die Nägel, die inneren Flächen. Endlich sagte er: »Sie haben eine zarte Haut, Kerlchen, sind schon als Baby nach allen Regeln moderner Hygiene gepflegt worden, he? Feiner junger Herr, nicht schlecht geboren, dünne Schläfen, delikate Gelenke und vif im Kopf. Ich mag Sie leiden, Mohl, ich mag Sie verteufelt gut leiden.« Damit ließ er, widrig kichernd, Etzel los, der ihn mit Augen betrachtete, in denen sich äußerste Bestürzung spiegelte. Er kam sich plötzlich so klein vor wie sein eigener Daumen. Na, du bist mir ein schöner Satan, dachte er und kehrte sich mutlos ab. Warschauer schlug vor, er solle mit ihm in eine Konditorei gehen und Schokolade trinken.
    Er zog offensichtlich keinerlei Konsequenzen daraus, daß er Etzels Annäherungsmanöver als das erkannt hatte, was sie waren. Vielleicht amüsierte es ihn sogar, zu beobachten, wie weit er sie vervollkommnete und wohin sie ihn noch führten. Er war der Ansicht, daß die Menschen ihre Beweggründe und Zwecke von selber bloßlegten, wenn man ihnen nur Zeit ließ. Sie spulten sich einfach ab wie der Zwirn von der Rolle. Er war so sicher. Er war so unerreichbar, daß er sich einen Zynismus leisten konnte, der andern als Demut und Bescheidenheit erschien. Als sie in der Konditorei an der Rheinsberger Straße in einer schummrigen Ecke einander gegenüber saßen, sagte er mit jenem süßlichen Wohlwollen, bei dem Etzel stets das Gefühl hatte, als zwicke man ihn mit Fingernägeln ins Ohr: »Sie können mich fragen, was Sie wollen, Mohl, ich werde Ihnen mit Vergnügen Auskunft geben. Auf die Weise werden Sie Nützlicheres erfahren, als wenn Sie Indianer auf dem Kriegspfad spielen und meine Fußspuren beschnüffeln. Das ist kein Geschäft für Sie. Sie sollen bei mir was lernen.« Etzel errötete bis in die Haare. »Alles andere interessiert mich nicht, wissen Sie«, fuhr Warschauer fort und leckte seine Lippen ab, an denen Schokolade klebte, »interessiert mich nicht und berührt mich nicht. All solches Hintenherum, Aufpassen und Belauern, das ist mir wie Flohstiche, da blick ich gar nicht hin, denn greif ich erst mal zu, Junge, o weh! ein Knips, und der Floh ist kaputt.«
    »Ich mag Sie leiden, kleiner Mohl.« Denkt euch an den Rand einer Wüste in einer schweren, aber reglosen Nacht eine brennende Kerze hingestellt, so habt ihr, die Phantastik des Bildes zugegeben, den ungefähren Sinn dieser Worte. Der Vorgang ist so dunkel wie die Seelenverfassung des Mannes, der in seiner Beziehung zur Welt beim letzten Stadium der Zersetzung hält. »Es interessiert mich nicht, es berührt mich nicht.« Das ist der Schlüssel. Selbstausschaltung. Man gewinnt den Eindruck eines Menschen, der zwischen gläsernen Wänden und gläsernen Mauern herumgeht und es aus Ekel und Verachtung unterläßt, die Augen aufzuheben, um einen Blick hineinzutun. Er könnte alles sehen, links und rechts, vorn und hinten, er hat den Röntgenblick, aber es macht ihm durchaus keinen Spaß. Er ist in einem Grade illusionslos, daß er nicht den Finger regen würde, um seine anscheinend ziemlich tristen Umstände zu verbessern. Die Reden, die zwischen Menschen gewechselt werden, gleichviel worüber, sind ihm unerheblicher als Insektengeschwirr; sie dienen dazu, Taten glauben zu machen, die nie getan werden, und andere zu verdecken, die geleugnet werden, wenn man sie mit den Reden konfrontiert. Sämtliche großen Worte, die klingenden Panazeen, als da sind: Religion, Vaterland, Menschheit, Ethik, Nächstenliebe usw. betrachtet er wie aufgeklebte Zettel in einer Kurpfuscher-Apotheke, und außer der Dummheit und der Habsucht anerkennt er

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