Der Fall Maurizius
Angaben des alten Maurizius verlassen, aber genügte das? Freilich hatte ihm auch sein Instinkt verraten, daß er auf der richtigen Fährte war, sobald er Warschauer nur erblickt hatte, aber irgendwelche Gewißheit besaß er nicht. Das beharrliche Schweigen des Professors flößte ihm unbestimmte Bangigkeit ein, die er nicht merken lassen durfte, er spürte wohl, von der ersten Frage und Antwort hing alles ab, und indem er in die Spiritusflamme schaute, entwarf er einen Kriegsplan. Er seinerseits wagte nicht, das Schweigen zu brechen, hütete sich auch, einen neugierigen Blick, eine beunruhigte Miene zu zeigen, sah nur aufmerksam bald in die Flamme, bald in den Blechtopf hinein. Es war Respekt, ja eine ahnungsvolle Scheu vor der Figur des Professors, die ihn zu solchem Verhalten nötigten; Figur im Sinne eines jungen Geistes, der sich ein einheitliches Bild, ein wie Dichtung geschlossenes Wesen neben die zufällige und ungenaue Wirklichkeit stellt und dieses Wesen auch in seiner ganzen Tiefe und Ausdehnung konzipiert. Endlich legte Warschauer das Besteck hin, fuhr mit dem Zeigefinger ein paarmal im Mund herum, was Etzel gräßlich unappetitlich fand, und sagte herrisch, fast befehlend: »Na, also? Was denn? Wie lang soll ich noch auf Erklärungen warten, my dear Mr. Mohl oder Mr. Nobody oder wie Sie sonst heißen? Was bedeutet die Anrempelei? Wer hat Sie geschickt? Was steckt hinter dem Gefasel? Schön, hier bin ich, Georg Warschauer alias Gregor Waremme, was wollen Sie, junger Mann?«
Es gab also hierüber keinen Zweifel mehr, Gott sei Dank. Doch Etzel schrak bei der Nennung des Namens zusammen wie bei einem Schuß und brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. »Gleich, Herr Professor«, erwiderte er dienstbeflissen, mit einem hurtigen, harmlosen, wichtigen Lächeln, »gleich, ein bißchen Geduld bitte, das Wasser kocht bereits.« Derweil konnte er noch überlegen. Warschauer trommelte mit den kurznägeligen Fingern dumpf auf der Tischplatte. Etzel manipulierte in aller Ruhe, endlich war er fertig, goß das dampfende Getränk in die Tasse und schob diese zu Warschauer hinüber. Dann lehnte er sich mit den Ellbogen über den Tisch, blinzelte ein wenig, zögerte ein wenig und fing an, vom alten Maurizius zu berichten. »Ein unglücklicher, alter Mann, Herr Professor. Haben Sie eine Ahnung, wie alt der ist? Vierundsiebzig. Unglaublich, daß so jemand noch lebt. Er behauptet, er stirbt nicht eher, als bis sein Sohn Leonhart aus dem Zuchthaus entlassen ist. Wo doch nicht die mindeste Aussicht dazu besteht. Lebenslänglich verurteilt, weshalb sollen sie ihn entlassen? Aber er hat sich's in den Kopf gesetzt und läßt nicht um die Welt davon ab.« Er verbreitete sich, führte aus, sehr plausibel und mit charakteristischen Einzelheiten, daß er den Alten seit Jahren kenne, seine Großeltern hätten eine Zeitlang Haus an Haus mit ihm gewohnt, zu denen sei der sonst so menschenscheue Greis häufig zu Besuch gekommen und habe stundenlang von nichts anderm erzählt als von seinem Sohn und dessen schrecklichem Schicksal. Ihn, Etzel, habe er nach und nach ins Herz geschlossen, ihm alles anvertraut, alle seine Hoffnungen, die Schritte bei Gericht, alle Fehlschläge, die ganze Geschichte und den Verlauf des Prozesses. »Sie müssen ihn übrigens kennen, Herr Professor«, schaltete er in einem schmeichlerischen Ton ein, »er hat gesagt, er war mal hier bei Ihnen.« Warschauer blickte verwundert empor. »Ja, er hatte mit vieler Mühe und großen Kosten Ihren jetzigen Namen und Wohnort ausgekundschaftet und reiste einfach her. Setzte sich eines Tags auf die Eisenbahn, um mit Ihnen zu reden. Aber ich glaube, er hat nicht eine Silbe gesprochen, er hat sich nicht getraut, der einfältige, alte Kerl, ist Hals über Kopf wieder umgekehrt. Erinnern Sie sich nicht?« Es schien, daß in Warschauer die Erinnerung erwachte. Es sei einmal, gab er zu, ein ziemlich vertrackt aussehender Alter dagewesen, eine Art Bauer oder Kleinstädter, er entsinne sich, stand an der Tür, glotzte wie ein Kalb, fragte, ob ein Zimmer zu vermieten sei, und marschierte wieder ab. Mochte ungefähr ein Jahr her sein. »Also das war der . . . hm . . . der Vater Maurizius. Wie merkwürdig. Aber . . . (wiederholtes Räuspern) was wollte er denn? Weshalb kam er?« – »Wegen gewisser Briefe . . .«, flüsterte Etzel, abermals in dem schmeichelnden Ton, und beugte sich noch weiter über den Tisch. Warschauer, der geräuschvoll den Rest des Kaffees schlürfte, behielt
Weitere Kostenlose Bücher