Der Fall Maurizius
die Tasse in der Hand und fragte erstaunt: »Briefe? Was für Briefe?« – »Er sagt, Sie müßten Briefe haben, die Ihnen der Leonhart damals geschrieben hat, noch vor dem Unglück. Auch andere Briefe, die er an die Fräulein Jahn geschrieben hat. Er schwört darauf, daß Sie sie haben. Er gäbe sein halbes Vermögen drum, wenn er sie bekäme. Und da er selber sich nicht getraut hat damals und zu alt und kränklich ist, um wiederzukommen, . . . kurz, mir ist's nahegegangen, wie er sich so abgehärmt hat, meines Bleibens war dort sowieso nicht mehr, ich wollte ja immer schon nach Berlin, so sagte ich ihm, ich will's versuchen, vielleicht gibt er mir die Briefe.« Warschauer schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von Briefen«, bemerkte er abweisend, »leere Einbildung. Da haben Sie sich umsonst bemüht, junger Mohl.« Die Worte klangen spöttisch, hatten aber den Ton vollkommener Aufrichtigkeit. Etzel hatte auch nicht erwartet, etwas anderes zu hören, doch nahm er eine enttäuschte Miene an und fragte schüchtern: »Wirklich nicht? Sehn Sie doch mal genau nach, Herr Professor. Mir zuliebe. Nämlich, Sie können sich nicht vorstellen, was der Alte für einen Kultus mit seinem Sohn treibt. Gar nicht wie mit einem Verbrecher, keine Spur, wie mit einem Heiligen fast. Vergöttert ihn geradezu. Die dümmsten Kleinigkeiten sammelt er aus seiner früheren Zeit. Sein Kinderspielzeug hat er aufgehoben. Verrückt, sag ich Ihnen. Vielleicht schaun Sie doch noch unter Ihren Papieren nach . . .« Hinter den schwarzen Gläsern funkelte es flüchtig auf. Der Blick senkte sich, glitt über den Fußboden hin, kehrte zurück, kroch am Körper des Knaben hinauf bis zu dessen Gesicht und begegnete dort einem andern Funkeln, hell und stark, wie von Bronze. »Ich besitze keine Briefe«, stieß er böse hervor und malmte mit dem Kiefer, »ich besitze überhaupt nichts Schriftliches von . . . von Leonhart Maurizius, keine Briefe an mich, keine an . . . ›die‹ Fräulein Jahn. Schluß damit.«
Etzel richtete sich auf, sah ein wenig bestürzt vor sich hin, drückte die Hand vor den Mund, eine Knabengebärde, die er sich nicht abgewöhnen konnte. Er stand vor Warschauer, der in seinem langen, grauen Gehrock mächtig und formlos auf dem Stuhl kauerte, schlank und klein wie ein Ausrufezeichen. »Waren Sie denn nicht befreundet mit ihm, Herr Professor?« erkundigte er sich mit unschuldiger Neugier, »ich dachte, Sie seien sein Freund gewesen . . .« Warschauer zog verächtlich die Brauen zusammen und entgegnete ausweichend, in schläfrig-unwilligem Ton: »Freund . . . kann sein . . . möglich . . . da waren viele . . . damals . . . möglich.« Etzel trat einen Schritt näher. »Und sagen Sie mir eins, Herr Professor«, fuhr er eifrig, gleichsam unüberlegt, zu fragen fort, »glauben Sie eigentlich, daß er den Mord begangen hat? Ich meine«, verbesserte er sich hastig, da ihm, dem Kronzeugen Waremme gegenüber, die Ungeheuerlichkeit der Frage Angst einjagte, »ich meine, ob er schuldig ist, auch wenn er . . . auch wenn er den Schuß abgefeuert hat?«
Warschauer gab keine Antwort, sah ihn nur mit einem unbeschreiblich toten, kalten, gefrorenen Blick an. Es war, als hätte er die Frage nicht gehört oder sie gleich darauf vergessen. Etzel konnte sich eines leichten Schauders nicht erwehren.
2
Vermutlich hatte Warschauer-Waremme seine kleinen Finten und Verstellungskünste viel früher durchschaut, als Etzel sich's träumen ließ. Zu dieser Zeit hatte er ja von dem durchdringenden Geist des Mannes und seiner wahrhaft monströsen Erfahrung nur einen sehr undeutlichen Begriff. Er spürte ihn, die geduckte Ruhe, die etwas unterirdisch Kochendes hatte und manchmal einen verheerenden Ausbruch fürchten ließ, das undefinierbar Zerrissene und Verwüstete, das an eine von einem Wolkenbruch heimgesuchte Landschaft erinnerte, das Schleichende, Ungesellige, Argwöhnische wie bei einem gehetzten, kranken, doch immer noch ungeheuer starken Höhlentier, er spürte alles, ermaß es aber nicht. So blieb ihm auch einstweilen verborgen, daß Warschauer die Motivierung, er sei nur wegen Erlangung der Briefe zu ihm gekommen, mit einer Skepsis aufnahm, der glücklicherweise zuviel Gleichgültigkeit zugemischt war, als daß er sich zu einer für den jungen Menschen jedenfalls unbequemen Inquisition hätte herbeilassen mögen. Er sah, daß der Aufwand in keinem Verhältnis zum Zweck stand, erst wochenlanges Um-den-Bart-Gehen, listige Veranstaltungen bei Frau
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