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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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ihre Geschichte, ihre Verwandlung. Nicht nur die und die Stadt, in der er selbst gelebt, sondern Hunderte von Städten, und in den Städten die Dome, die Paläste, die Burgen, die Kunstwerke, die Bibliotheken, die Spuren großer Männer. Gab es denn eine Begebenheit seines eigenen Lebens, der sich nicht geschlechteralte Erinnerungen gesellten, die mit ihm geboren waren? Europa war nicht bloß die Summe der Bindungen in seiner individuellen Existenz, Freundschaft und Liebe, Haß und Unglück, Gelingen und Enttäuschung, es war, ehrwürdig und unfaßbar, die Existenz eines Ganzen seit zweitausend Jahren, Perikles und Nostradamus, Theoderich und Voltaire, Ovid und Erasmus, Archimedes und Gauß, Calderon und Dürer, Phidias und Mozart, Petrarka und Napoleon, Galilei und Nietzsche, ein unabsehbares Heer lichter Genien, ein ebenso unabsehbares von Dämonen, alles Helle ins Dunkle getrieben und aus ihm wieder hervorleuchtend, aus trüber Schlacke goldenes Gefäß zeugend, die Katastrophen, die Erleuchtungen, Revolutionen und Verfinsterungen, Sitte und Mode, all das Gemeinsame, Strömende, Gekettete und Gestufte: der Geist. Das war Europa, sein Europa. Wie konnte er dies Europa von sich abtun? Es war in ihm. Er trug es mit hinüber. Es wirkte in ihm schon dadurch, daß er atmete. Er hatte demnach, so schien es ihm, eine Aufgabe. Wie ein Missionar zu den Heiden geht, um ihnen den wahren Gott zu bringen, so ging er »hinüber«, schien es ihm, um den Geist Europas zu verkündigen.
    »Es läßt sich denken, Mohl, wie großartig ich mir in dieser Einbildung vorkam. Kolumbus der Zweite. Ein heiliger Paulus der Bildung und Kultur, nicht wahr? Mit solchen Rosinen im Kopfe konnt ich mich doch einigermaßen installieren. Was man aus Büchern über Land und Volk erfahren kann, das wußte ich, ich hielt die theoretischen Kenntnisse für einen nützlichen Fundus, zudem beherrschte ich die Sprache wie meine eigene, Engländer von Rang hatten mir oft ihr Erstaunen darüber ausgedrückt. Nun, ich war ja immer eine Art Mezzofanti. Ich hatte aber keine Verbindungen. Ich kannte keinen Menschen. Ich besaß keinerlei Empfehlung. Ich brachte nicht einmal einen Titel mit. Ich wollte mich bei den Universitäten einführen, es war jedoch aus gewissen Gründen unmöglich, auf meine frühere Wirksamkeit zu verweisen, ich mußte Erkundigungen fürchten, ich hatte keinen akademischen Grad, die Verachtung, die ich für die Herdenauszeichnungen gehabt, rächte sich jetzt, die Versuche scheiterten. Zu meinem Glück, denn bei der Lage der Dinge hätte ich auf jedem ihrer Katheder eine bedauernswerte Figur abgegeben, etwas wie den Lehrer in einer indianischen Dorfschule. Nach einigen Wochen war ich von allen Mitteln entblößt. Das schierte mich nicht groß. Verhungern kann dort niemand. Das ganze Land ist sozusagen eine Versicherungsanstalt gegen den Hungertod. Die öffentliche Wohltätigkeit ist so gigantisch, daß Bettler fast so selten sind wie Könige. Und sie haben ja die Demokratie. Was allerdings zwischen Leben und Nichtverhungern liegt, ist ein anderes Kapitel. Stellen Sie sich ein riesiges Hospital vor, ausgestattet mit allem Komfort der Neuzeit, vollgestopft mit lauter unheilbar Kranken, von denen niemals einer stirbt, so haben Sie, was »dazwischen« ist. Das Sterben könnte dem Renommee des Instituts schaden. Nun, Sie haben sich hoffentlich in der Zeit unserer Bekanntschaft davon überzeugt, daß ich ein Mensch ohne materielle Bedürfnisse bin. Während ich noch im höchsten gesellschaftlichen Glanz lebte, brauchte ich für meine Person, außer wenn ich bestimmte Zwecke erreichen wollte, nicht viel mehr als ein armer Student. Das ist eine der Eigenschaften, durch die man unter Umständen stärker wirkt als durch Genialität. Der Völler und Genüßling glaubt nur an den Enthaltsamen. Es gelang mir leicht, durch Sprachunterricht mein Brot zu verdienen. Ich blieb damit aber auf die untersten Klassen beschränkt. Es hatte äußere Gründe. Ich hatte das Geld nicht, mich anständig oder gar elegant zu kleiden, ich hatte auch nicht die Neigung dazu. Nach und nach kam ein Trotz über mich, als wäre mein ärmliches Aussehen ein Selbstschutz, Sie werden bald verstehen, warum mich nach diesem Selbstschutz verlangte. Die inneren Gründe waren bedeutsamer. Kleine Leute vertrugen mich grade noch. Kleine Leute fordern nicht die Umgangsschablone, sie sehen noch im andern Menschen etwas Schwebendes, da sie ja auch noch schweben, über der Tiefe nämlich. Den

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